Wenn er mich findet, bin ich tot
aufzudrücken. Wie denn? Mit meiner dritten Hand? Meine Muskeln brennen. Mit allerletzter Kraft drücke ich den Kopf dagegen. Als das Fenster sich einen Spalt öffnet, kralle ich mich am Fensterrahmen fest. Dann bin ich drin, im Personalklo, 1. Stock. Hier raucht der Bürgermeister, heimlich.
Ich ziehe meine Schuhe aus, das Fenster hinter mir zu und spring runter. Links geht’s zum PUTZRAUM – Tür geschlossen halten. Auf Socken schleiche ich am Waschbecken vorbei. Seitdem ich denken kann, schleiche ich auf Socken. Niemals barfuß, viel zu laut, vor allem auf Kunststoffböden. Lautlos – das kann ich, wer weiß, ob ich noch am Leben wäre, wenn ich es nicht könnte – öffne ich die Tür zum Flur und laufe beinah in einen Putzwagen hinein. Die Frau, die ihn schiebt, schreit denoffenen Treppenaufgang hinunter: »Ivana, bist du endlich fertig?«
Ich lege blitzartig den Rückwärtsgang ein und ziehe mich in die mittlere Kabine zurück.
Von unten: »Stress! Immer machst du Stress, Cefika!«
RUMS. BOING.
Licht an. Putzwagen scheppert durch die Personaltoilette. Die Putzfrau muss nicht leise sein, sie ist es nicht. Sie brüllt: »Beeilung, ich will auf den Marktplatz!«
Der Putzraum wird abgeschlossen, der Wasserhahn am Waschbecken läuft. Licht aus, eine Tür fällt ins Schloss.
Ich warte lange, dann öffne ich noch einmal lautlos die Tür und mache mich auf zum Laufparcours, wie Kolja ihn mir beschrieben hat: Durch den Flur um den Treppenaufgang, immer links die Büros im Blick behalten, ob ein Lichtschein auszumachen ist, dann den Festsaal umkreisen. Ist die Luft rein, wieder hoch ins Bürgermeisterklo, das Seil aus dem Rucksack nehmen, um die Kabinenwand schlingen und beide Enden aus dem Fenster werfen.
Ich folge den Anweisungen. Kolja steht unten.
Mit dem Seil ist das Hochkommen an sich kein Thema, aber er ächzt und keucht: »Mann, was dauert das denn so lang?«
Ich: »Frag die Putzfrauen, wieso sie in deinem super recherchierten Supercoup nicht vorkommen!«
Er flüstert: »Wirst schon sehen.«
Ich flüstere: »Ich kann dich hören. Zieh die Schuhe aus.«
Ich schleiche hinter ihm her und bedaure meine Aufforderung. »Kolja, das kannst du nicht bringen.«
»Was?«
»Deine Socken stinken dermaßen, das ist krank. Du gräbst Mädchen an. Was willst du? Sie mit einer Socke außer Gefecht setzen und dann mit ihnen rummachen?«
»Maul. Das kommt von den Gummistiefeln. Wenn ich ausgehe, sind nicht nur meine Socken frisch.«
Der stinkige Meisterdieb bewegt sich wie ein Schatten. Im Erdgeschoss hält er vorm Empfang. Er schließt mit einem Dietrich die zweite Tür links schneller auf, als ich lesen kann, was für eine Abteilung das ist. Dann hält er auf das Waschbecken zu, zieht den Stecker vom Wasserkocher aus der Steckdose, füllt ihn mit Wasser, ich soll ihn tragen. Es geht an vier Schreibtischarbeitsplätzen für vier Sesselfurzer vorbei. Dann schließt er die Seitentür zum POSTRAUM auf. Das wandfüllende Fächerregal ist mit abgegriffenen Schildchen versehen. Für die Tür auf der rechten Seite braucht Kolja fünfzehn Sekunden. Kaum packt mich die Nervosität, ist sie offen. Kolja macht das Licht an. Der Raum ist fensterlos.
»Steck den Wasserkocher ein.«
Früher müssen der Postraum und dieser hier ein Raum gewesen sein. Beide sind schmal und haben ein Regalsystem, mit dem einen Unterschied: Die Fächer hier sind abschließbar. Eins der Fächer schließt Kolja auf:
S wie Schule und Bildung .
»Da ist er.« Ein Umschlag liegt im Fach, adressiert an die PRÜFUNGSKOMMISSION VHS-Bad Stockbach, das Oberschulamt ist der Absender.
Aus dem Kocher tritt Wasserdampf aus. Kolja bewegt den gummierten Klebestreifen über dem Dampf hin und her. Er ist die Ruhe selbst. »Fotokopier das dreimal.«
»Wo?«
»Unten im UG.«
Ich schleich runter, such den Stecker, die Steckdose und drücke auf on . Der Krach, der folgt, ist in der Stille ohrenbetäubend. Vor Schreck werfe ich mich hinter eine Palette mit A4-Papier.
Mit lauwarmen Kopien flitze ich wieder nach oben.
»Gib mir einen Satz Kopien und steck die beiden andern in deinen Rucksack, falls uns wer filzt.«
Kolja überprüft die Reihenfolge der Originalpapiere, tütet sie ein und klebt den Umschlag zu. Sieht aus, als wäre er niemals offen gewesen.
Alle Türen werden ordnungsgemäß zugeschlossen. Der Wasserkocher kommt an seinen angestammten Platz. Ich schleiche Kolja hinterher. Seine Füße duften, als würde er auf Rosenblättern wandeln.
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