Wenn er mich findet, bin ich tot
Ich übertreibe.
»Das macht Spaß«, grinse ich.
Er grinst zurück. »Ich arbeite lieber an den Regeln mit, nach denen ich leben soll. Hab ’n besseres Gefühl dabei.«
Ich auch, aber Respekt, wie konsequent er es handhabt. Er hat gründlich recherchiert für seinen Aufsatz über alte Gemäuer. Und bis auf das Putzpersonal hat er an alles gedacht. Mit einem simplen Klebestreifen schafft er es, dass sich das Fenster zuzieht, als er das Seil einholt.
Wir hinterlassen keine Spuren auf dem Rindenmulch.
»Noch ’ne Cola? Ich geb eine aus.« Meine Kehle ist vollkommen ausgedörrt. Die Blaskapelle spielt »Ein Prosit der Gemütlichkeit«.
Wir schweigen und beobachten das Treiben um uns herum. Ein gemütliches, geschwisterliches Schweigen, bis ich frage: »Wo ist deine Schwester?«
»Bei ihrer Mutter«, sagt Kolja knapp.
»Und wieso du nicht?«
»Ich kann nicht.« Kolja trinkt. »Sie hat mir nie geholfen. Nie, auch nicht, als ich ganz klein war. Manchmal ist es blöd, wenn man sich erinnern kann. Glaub mir.«
Das ist sein Schlusssatz zu den Themen Vergangenheit, Familie und all dem Scheiß.
Der Chef und Paolo fangen uns zu Hause ab.
»Und, wie war der Film?«
»Keine Ahnung«, sagt Kolja. »Wir haben’s uns anders überlegt und sind zum Feuerwehrfest gegangen.«
Ich summe »Ein Prosit der Gemütlichkeit«, aber irgendwas verstimmt Paolo. Vielleicht summe ich falsch?
Auf Koljas Frage, »Gibt’s was zu beißen?«, kriegt er auch keine Antwort. »Ich geh hoch, mach mir ’n Brot«, sagt Kolja und schlendert die Treppen hoch.
»Bin platt«, sag ich und eile ihm nach. Sonst verwickelt mich der Chef noch in eine Debatte.
In meinem Zimmer höre ich Paolo draußen im Flur erst genervt und dann entspannt mit Kolja palavern.
Als wir in der Küche die Papiere sichten, finden wir auch die Unterlagen für den Realschulabschluss.
»Wenn wir jetzt schon die Prüfungsthemen für die vorgezogene Realschulprüfung im Herbst hätten, wie geil wär das?«, träumt Paolo.
»Wir müssen die Klappe halten«, mahnt Kolja. »Zu niemandem ein Wort.«
Paolo: »Das ist uns allen arschklar!«
»Und ihr müsst morgen mit mir einen Aufsatz über den Schuldturm schreiben. Das bin ich Frau Huber schuldig.«
»Morgen ist Sonntag! Ich hab heute für euch das Feld bestellt und den Mist untergegraben.«
»Ich bin für euch an einer glatten Fassade hochgeklettert und habe für euch riskiert, mir das Genick zu brechen«, gebe ich zu bedenken, weil ich kommen sehe, dass es an mir hängen bleiben soll, Koljas Arbeit zu schreiben.
»Morgen um zehn, hier«, hakt Kolja nach.
Pause. Wir nicken – alle drei.
Der Einbruch hat mich aufgewühlt, an Schlaf ist nicht zu denken. Ich krabble wieder aus dem Bett und sehe nach den Sternen. Der Mond steht exakt über Marias Haus. Das ist beruhigend, und ich denke, alles ist gut. Wir sind auf die Prüfung vorbereitet, ich bin nicht allein. Der Chef scheint noch wach zu sein, denn ich sehe einen Lichtschein im Garten. Und dann sehe ich ihn! Ein Mann schleicht am umgegrabenen Acker entlang Richtung Gartenlaube und verschwindet dahinter. Ich öffne leise meine Tür – zum Glück ist im Flur das Licht nicht an – und flitze in Paolos Zimmer.
»Steh auf! Im Garten ist einer. Wir müssen es dem Chef sagen!«
Ich kann Paolo gerade noch daran hindern, das Licht anzumachen. Aber dann ist er hellwach.
»Weck Kolja, ich geh nach unten.« Paolo schleicht die Treppe runter.
Ich steh vor Koljas Tür und flüstere so laut wie möglich: »Kolja.« Klopf, klopf. Ich drücke die Klinke, er hat abgeschlossen. Und dann höre ich eindeutige rhythmische Vögelgeräusche. Das darf ja wohl nicht wahr sein! Ausgerechnet jetzt! »Kolja!«
Eins, zwei, drei, vier, fünf … Er öffnet die Tür einen Spalt und zeigt sein durchgeknalltes Gesicht.
»Im Garten schleicht einer rum. Zieh dir was über und komm runter. Wenn’s irgend geht – schnell!«
Ich lass ihn stehen und renne die Treppe runter.
Der Chef und Paolo warten vor der Küchentür auf uns. Die Schalter für die Gartenbeleuchtung befinden sich in der Küche und in der Werkstatt.
»Wo ist Kolja?« Der Chef ist nervös.
»Zieht sich an.« Wir hören ihn die Treppe runterkommen.
»Was hast du genau gesehen?«, fragt der Chef.
»Einen Mann. Er ist am Acker vorbeigeschlichen und hat sich hinter der Gartenlaube versteckt.«
»Ich mach das Gartenlicht an und ihr bezieht Posten an der Werkstatt. Ich sehe in der Laube nach. Vielleicht ist es ein Penner.
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