Wenn er mich findet, bin ich tot
blauen BIC-Kuli. Woher Kolja das wusste? Keine Ahnung, vielleicht hat er die vorbereiteten Packen im Sekretariat gesehen. Und sicherheitshalber haben wir alles stur auswendig gelernt. Ich bin ratzfatz fertig und sicher, dass ich keine Fehler gemacht habe. Ich gehe alles mehrmalsdurch und bin mir nicht mehr sicher. Und dann weiß ich, dass ich alles falsch gemacht habe. Ich werde panisch und bin voll in meinem Element.
Error! Error! Error! ERROR!!!
Tief über meine Blätter gebeugt, Herzfrequenz im Infarktbereich, fummle ich die korrekten Blätter unter meiner pinkfarbenen Weste vor und die anderen drunter.
BADABOOM, BADABOOM, BADABOOM …
»Was suchst du in deiner Weste?«, fragt Praum, zweiter Prüfer und Raucher, dicht an meinem Ohr. Ich hab ihn nicht kommen hören.
»Mir ist schlecht.« Ungelogen, ich muss sofort raus.
Paolo flüstert mit Frau Huber.
»Komm, Tilly, ich begleite dich.« Sie eilt vor mir her zu den Toiletten. »Kippst du um?«
Ich verschwinde in der Kabine und würge los.
»Ruf, wenn du mich brauchst.«
Ich würge laut. Falte blitzschnell die Papiere und lege sie in meine Turnschuhe, halbe-halbe, es sind zu viele Seiten. Reinschlüpfen, Finger in den Hals, Spülung ziehen.
Frau Huber drückt die Tür auf. »Und?«
BEURK!
»Zieh die Weste aus«, sagt Frau Huber fürsorglich, als ich meinen Mund ausspüle, »die ist bekleckert.« Dann checkt sie das Klo, »ich muss das tun«, die Nachbarkabine rechts, »bin gleich fertig«, linke Kabine. »Können wir?«
Ich folge ihr zurück.
»Willst du die Prüfung nachschreiben?«
»Nein, ich bin gut reingekommen. Erst am Ende ist mir schlecht geworden. Tut mir leid.«
Frau Huber lächelt mich an. »Tief durchatmen.«
Und ein. Und aus. Und ein. Und aus.
»Ich kenn die Anzeichen, wenn du kurz vorm Durchdrehen bist, Obergestörte.« Der Stehtisch schwankt, mein Kakao schwappt über. »War klar, dass sie dich filzen. So was von auffällig, nee!« Paolo hält den Tisch umklammert. »Und dann bringt sie wieder ganz entspannt ihre Tilly-Krah-In-Trouble-Show-Einlage, und wir können in Ruhe unsere Seiten austauschen. Vielen Dank.«
»Schrei nicht so laut rum, Alter«, mahnt Kolja.
Ich sag nichts und hol mir einen neuen Kakao bei unserm Stammbäcker im Bahnhof.
Zu Hause beschließe ich, dass für mich nur Kapieren und/ oder Auswendiglernen infrage kommt. Also zieh ich mir Mathe rein. Mein Hirn verweigert die Aufnahme von unverdautem Stoff, also fange ich an zu kapieren. Dienstagnacht kann ich die Aufgaben und Lösungen im Schlaf herbeten. Bin die Ruhe selbst bei der Prüfung. Kolja und Paolo gehen auf Nummer sicher und tauschen wieder die Seiten aus, aber die sind auch abgebrühter.
Über die Pfingstferien büffeln wir für Politische und wirtschaftliche Bildung und labern nur englisch miteinander für den mündlichen Teil der Englischprüfung, Sprechen und Sprachmitteilung . Die Oberstraße wird geflutet. »Street of Tears« ist ihr wahrer Name. Hohe Stimmen der Verehrerinnen fiepen herzzerfetzend durch Lauterstetten.
»Paolo, Kolja, wo seid ihr?«
SCHLUUUUCHZ!
»Kolja! Komm doch raus! Bitte!«
BU! BUH! BUUU! BUHHH!
Wir bleiben aus zwei Gründen drin: weil wir lernen und vor allem, weil wir echt Schiss haben rauszugehen.
Nur Lea kommt am Türspion vorbei. Sie kriegt Koljas Zärtlichkeiten. Aber der fette Blumenstrauß geht an Frau Huber, denn wir haben von ihr dreimal die Bestnote für die Prüfung bekommen. Wie versprochen, meldet sie uns zur vorgezogenen Prüfung im Herbst an.
Beck springt im Viereck vor Freude.
Wir hören ihn am Telefon gegenüber der EPM, dem Träger unsrer Erziehungsstelle und dem zuständigen Jugendamt, sich selbst und uns in den allerhöchsten Tönen loben.
Vom Problemkind zum Erfolgsfaktor. Wir fühlen uns saugut.
Und wenn alles stimmt, kommen mir Zweifel. Die fühlen sich an, als hätte ich Würmer. Es hat mir gutgetan, mich auf die Schule zu konzentrieren und mit dem Tagblatt zu plaudern. Aber die Schonzeit ist vorbei.
»Wir haben seit einer Woche keine Schule mehr, Chef.«
»Klingt, als schreist du nach einer Beschäftigung, Paolo?«
»Nicht irgendeine. Für die Prüfung im Herbst müssen wir einen Französischkurs machen. Ich kenn Rönoh und Pöschoh, aber ich hab keine Ahnung, wie man’s schreibt.«
»Parlez-vous français?«
»Chef, es ist kein feiner Zug, vor einem Heimkind den Bildungsbürger raushängen zu lassen.«
Kolja und ich lösen uns bis zur Unsichtbarkeit im Hintergrund auf. Wir sind raus
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