Wenn er mich findet, bin ich tot
fehlt ein schmaler Streifen Tapete. Das löst Unbehagen bei mir aus, mehr nicht, kein großes Ding.
»Und?«, will Paolo wissen.
»Hier ist nichts und war nichts. Ich kenn mich aus, mehr nicht. Wir sollten abhauen.«
Zu spät. Wir hätten daran denken sollen, dass der abgestellte Alarm bemerkt werden würde. Plötzlich geht überall Licht an, Hundekrallen kratzen auf Parkett, laute Stimmen unten aus der Halle.
»Kommt«, ich flitze nach hinten, in ein geräumiges Zimmer mit gestreiften Stofftapeten, und drücke gegen die Wand. Eine Tür tut sich auf. Dahinter ist eine gewundene, enge Treppe, die direkt in die Waschküche führt. Ich verriegle die Tapetentür und wir stürmen hinunter. Ich stemme ein Klappfenster auf. Wir durchqueren den Garten. Es fühlt sich an, als wäre ich erst gestern hier entlanggerannt. Ein Déjà-vu. Meine Füße finden allein den Weg zwischen Hecken und Waldsaum. Ich jage im Zickzack durch die Wildnis. Ein zugewachsener Pfad führtzur Jagdhütte. Ich springe über die Steinmauer und die Schienen der stillgelegten Spreewaldbahn.
Als wir den Forstweg erreichen, keucht Kolja: »Wir haben sie abgehängt!«
»Wir müssen zurück«, sag ich.
»Bist du wahnsinnig?« Kolja wird laut.
Ich flüstere: »Ich muss zurück! Da war was. Ich weiß es.«
»Was?«, fragt Paolo.
Ich schüttle den Kopf. »Die Hütte. Da ist was! Ich muss noch mal hin.«
»Das ist zu gefährlich, wir haben die Typen nervös gemacht. Wir kommen morgen wieder«, sagt Paolo, und Kolja unterstützt ihn. Also machen wir uns auf den Rückweg.
Meine Erinnerungen überschlagen sich, beängstigende Bilder und Schreie, die Bäume zerschneiden könnten. Dazu kommt der Modergeruch. Im nächtlichen Wald werden die Bilder schärfer, als ich es aushalten kann. Sie kommen direkt aus dem Auge meines inneren Panik-Orkans. Ich kriege kaum Luft.
»Ich muss dir was sagen«, setzt Paolo an.
Instinktiv krall ich mich an Koljas Arm fest.
»Du musst dich zusammenreißen. Okay?«
Mach ich, mach ich! Mach ich dauernd!
»Am Verzeichnis der Leichenfunde hängt ein Anhang. Hast du den gelesen?«
Ich schüttle den Kopf.
»Der alte Beck hat nicht alle Leichenfunde auf seinem Tisch gehabt. Der von dem Mädchen«, Paolo stockt, »von Tilly Krah, ist im September 2009 in Leipzig untersuchtworden. Goedel hat mit dem Institut für Rechtsmedizin Kontakt aufgenommen. Im Anhang ist eine Kopie des Antwortschreibens vom 2. Oktober 2009 an ihn, dass es sich bei dem unbekannten Mädchen nicht um seine Tochter Alma Goedel handelt.«
Er verstummt und Kolja fährt fort:
»Ist doch klar. Er sucht dich. Sie finden ein totes Mädchen, du bist es nicht. Ihr Tod, das Alter und dein Verschwinden stimmen in etwa überein, aber ein anderes Mädchen wird nicht vermisst. Wenn er nicht blöd ist, kommt er auf die Idee, dass es ausgetauscht worden ist. Er, oder wer immer für ihn sucht, stößt in der Nähe der Fundstelle auf die Assifamilie Krah. Es ist also höchstwahrscheinlich so, dass Goedel seit Oktober 2009 weiß, wer Tilly Krah in Wirklichkeit ist.«
»Du hast bis Oktober 2009 nur Albträume aufgeschrieben. Und ab Oktober hast du über deine Panikattacken und über deine Angst vor Verfolgern geschrieben«, sagt Paolo sanft.
Ich will, dass er aufhört, was er tut.
Aber Kolja ist noch nicht fertig: »Goedel hat dich beobachten lassen. Immer, wenn du in den Panikbüchern über deinen Verfolgungswahn geschrieben hast, ist auch etwas passiert.«
Genau! Und jetzt gerade ist er besonders stark!
»Weg hier«, flüstere ich. »Schnell!«
Hinter der Biegung ist die Brücke über den Köhlerfließ. Wir drücken uns durch die Tannenschonung und können den GDS-Wagen im Mondlicht auf der Brücke lauern sehen. Fast wären wir ihnen in die Arme gelaufen.
Warten oder schwimmen? Beides ist zu gefährlich. Ichführe sie zurück zum Damm der alten Spreewaldbahn. »Da entlang gibt’s noch ’ne Brücke, wo die mit dem Auto nicht hinkommen.«
23
Der Damm
Die Bohlen sind unvollständig. Ich stolpere und denke, genau dieses Gefühl kenn ich. Seit Ewigkeiten stolpere ich auf diesem Damm herum.
Paolo hält mich am Arm fest und sagt: »Also, zurück zu deinem Verfolgungswahn. Du hast nie einen gehabt. Du wirst verfolgt.«
»Ohne Zweifel«, sag ich müde. »Ihr auch.«
Er gibt nicht nach. »Ich hab ein Handy. Kolja auch. Alle haben eins. Wo ist deins?«
»Daheim, in der Küche.«
»Und die Sim-Karte?«
Ich sag nichts.
»Rausgenommen. Wieso?«
»Damit man mich nicht
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