Wenn er mich findet, bin ich tot
Vokabelbuch glotzt, nicht nur in die blauen Augen seiner Schnepfen! Intensive Zungenküsse nach dem Französischunterricht führen nicht zwangsläufig zum korrekten Zungenschlag der französischen Sprache! Und rhythmisches Reiben am Körper seiner petits trésors erweitert nicht automatisch den Wortschatz. Von Kolja hab ich nichts anderes erwartet. Aber Paolo?
Über meine Lippen kommt kein Ton, lieber beiß ich mir in den Hintern, als ihre blöden Aufforderungen zu kommentieren: Mach dich locker. Komm doch mit.
Ich sondere mich lieber ab. Mir ist das zu blöd. Die Blonden scharen sich um Paolo, die Dunkelhaarigerenkleben an Kolja, als ob ein unsichtbarer MC, Master of Ceremonies, die Schlossmädchen aufgeteilt hätte. Und ich hab Jens, Arthur, Hugo und Robert am Hals. Markus zieht immer enger werdende Kreise um mich. Am zweiten Dienstag um vier gebe ich auf und komme mit zum Badesee. Die Tatsache, dass ich ein bisschen abgedreht bin, ist bereits zum Nervthema geworden und macht alles noch komplizierter.
Also: Paolo und Kolja in Badehosen. Ich muss ja nicht hinsehen. Sie stieren auch nicht unverhohlen auf mein Bikini-Ober- und -Unterteil, trotzdem spüre ich ihre Blicke und höre Jens, Arthur, Hugo, Robert und Markus pfeifen. Als ich ins Wasser gehe, atme ich nicht mehr aus lauter Verkrampfung und Unsicherheit. Ich schwimme weit raus und bleibe lange dort.
Bigots französische Unterweisungen und Vokabeln, den Badespaß betreffend, hör ich noch am anderen Ufer.
»Du bist so süß, Tilly.« Markus ist mir nachgeschwommen.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Deine Haare leuchten blau, wenn sie nass sind.«
»Meine Mutter ist Sherpa.«
»Echt?«
Ich nicke. Markus schwimmt näher heran.
Ich gebe auf. »Okay, Markus, gehen wir knutschen.«
»Super.« Seine Augen leuchten.
»Bloß knutschen. Du fasst mir nicht in die Bikinihose! Klar?«
»Ja, ist klar.«
»Du jammerst nicht, bettelst nicht und flehst nicht. Das kann ich nicht ab, sonst bin ich weg.«
Markus, begeistert: »Ja, ja, okay, okay. Bloß knutschen.«
Wir erklimmen die Böschung und finden ein lauschiges Plätzchen hinter den Büschen.
Markus überzieht mich mit einer Serie von schnellen kleinen Küssen, die mich zum Lachen bringen. So küssen die kleinen Fische das Aquariumsglas im Erholungsheim.
Ermutigt knabbert er an meinem Ohr und geht nahtlos in die feuchte Phase über. Für meinen Geschmack zu viel Geschlecke. Er spürt es und wir konzentrieren uns wieder aufs Knutschen. Sehr schön.
Ich fang gerade an, mich zu entspannen, da fummelt er am Gummizug. Ich schiebe seine Hand weg.
»Bitte, bloß ein bisschen.«
Schon bin ich weg.
»Tilly!«
Da schwimm ich bereits im See.
Markus krault heran.
»Tilly, es war doch gerade so schön. Komm zurück.«
»Später.« Ich denk eh nur an Paolo.
Als ich an Land wate, kucken alle komisch.
»Je vais courir«, sag ich zu Bigot, zieh das T-Shirt über und mach mich vom Acker. Normalität ist nicht mein Ding. Zu desolat mein allgemeiner Gefühlszustand.
Um wieder etwas runterzukommen, laufe ich querfeldein über Wiesen und denke nach. Knutschen mit Markus war ein Schritt in die richtige Richtung. Und der Abgang war gut getimed, da gibt’s nichts dran zu rütteln. Es bringt mich Paolo nicht näher, aber auch nicht weiter weg. Und um das Herrenhaus Flusshorst kümmere ich mich selbst. Bin groß genug. Ich gehe auf das Gelände und überprüfe, ob mir etwas bekannt vorkommt. Wennüberhaupt, erinnere ich mich vielleicht dort an meine Vergangenheit vor Krah. Doch alles in mir sträubt sich dagegen.
Ich dreh durch! Immer toben Gegensätze in meiner Brust. Wieso hört das nicht endlich auf? Ich will diesen Scheiß nicht mehr, will einfach nach Hause gehen! Danach und nach Paolo sehne ich mich. Nach sonst nichts.
Die Landschaft verschwimmt. Ich weine. Meine Arme rudern, meine Schritte stocken. Wie festgenagelt stehe ich da und starre auf das Herrenhaus hinunter.
Links von mir scheppert es. Paolo lässt das Mountainbike am Wegrand fallen und stapft über die Wiese zu mir.
»Wieso rennst du allein durch die Gegend?« Er ist außer Atem.
»Schrei mich nicht an.«
»Ich schrei nicht.« Er starrt ins Tal.
»Das Haus ist geschrumpft.« Meine Stimme klingt hohl.
»Haus? Das ist ein verdammtes Schloss«, sagt er. »Ist das Flusshorst?«
»Ja.«
»Hast du’s erkannt oder hat es dir jemand gesagt?«
»Ich hab’s erkannt.«
»Ist was abgerissen worden?«
Ich schüttle den Kopf.
»Erstens stehen wir
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