Wenn es daemmert
Street. Anna nannte ihr die Straßennamen und erzählte ihr etwas über die Gegenden, durch die sie fuhren. Es war so viel, dass sich Pepa gar nicht alles merken konnte, so sehr sie es auch versuchte. Die Stadt erschien ihr strahlend und golden. Sie stiegen an einem Platz aus, der St. Andrew’s Square hieß.
»Gehen wir in die großen Kaufhäuser in der Princes Street?«, fragte Pepa aufgeregt und war stolz, sich den Namen der Straße so gut gemerkt zu haben. Sie glaubte auch, dass sie ihn richtig ausgesprochen hatte.
Anna schüttelte den Kopf. »Nein, da gehen wir nicht hin.«
»Aber ich habe da unten H&M gesehen!«
»Wenn du hier in Edinburgh arbeitest, gehst du nicht zu H&M einkaufen. Nun, du kannst, aber du musst es nicht.«
»Wieso muss ich nicht? Wenn ich doch will ?«
Anna warf ihr einen geheimnisvollen Blick zu. »Du musst nicht, weil du dir etwas Besseres leisten kannst.«
»Besser? Aber da gibt es alles, das weiß ich! Was ist mit dem großen Kaufhaus? Jen … wie heißt es?«
»Jenners?«
»Das sah wunderschön aus!«
»Wenn du ein Kaufhaus sehen willst, dann zeig ich dir eins. Jenners ist okay, aber – lass dich überraschen!«
Anna ging nicht hinunter zur Princes Street, sondern schlug die andere Richtung ein. Mit einer weit ausholenden Handbewegung zeigte sie auf den Teil der Stadt, der nun vor ihnen lag und New Town hieß. Dann hielt sie die Tür zu einem riesigen Gebäude auf, das sie Harvey Nichols nannte, und ließ Pepa vorgehen.
Pepa verstand sofort, dass dieses Kaufhaus anders war. Sie gingen zunächst durch einen hellen, schön duftenden Bereich, in dem es nur Kosmetika gab. Dann kamen sie in eine Abteilung für Accessoires: Handtaschen, Gürtel, Portemonnaies, und Anna las ihr die fremden Namen vor, die über den Regalen und Tischen prangten: Gucci, Prada, Marc Jacobs. Pepa wollte eine der Taschen in die Hand nehmen, doch dann sah sie das Preisschild und wich erschrocken einen Schritt zurück. Anna lächelte nur.
» Das ist ein Kaufhaus, in dem du shoppen wirst. Nicht bei H&M. Aber ich zeige dir noch etwas anderes.«
Zu Pepas großer Enttäuschung verließen sie Harvey Nichols – oder Harvey Nics, wie Anna sagte – gleich wieder, ohne sich in den oberen Stockwerken umgesehen zu haben. Sie gingen um eine Ecke und sahen in Schaufenster, die zu viel kleineren Geschäften gehörten. Das Kaufhaus war schon überwältigend gewesen, aber diese kleinen Geschäfte … Sie vergaß die Miniröcke und Plastikstiefel, die bunt glitzernden Oberteile und die Handtasche mit den Cowboyfransen, die sie sich immer gewünscht und nie besessen hatte. Sie entdeckte ihr Spiegelbild in der Glasscheibe und fühlte sich mit einem Mal sehr erwachsen. Es fühlte sich gut an.
»Wie gefällt dir das?«, fragte Anna und zeigte auf ein winziges Handtäschchen in einem der Fenster: beige und braun, über und über mit den Initialen LV bedruckt. Der Verschluss glänzte in lockendem Gold.
»Kostet das so viel wie die Taschen in dem Kaufhaus?«
Anna schüttelte den Kopf. »Mehr.«
»Noch mehr! Aber das kann niemand bezahlen«, rief Pepa erschrocken und presste fast ihre Nase gegen das Schaufenster. »Niemand auf der Welt kann so etwas bezahlen!«, wiederholte sie. Und sie dachte: So viel, wie die Handtasche bei Harvey Nics gekostet hat, verdient mein Vater in einem Jahr.
Anna nahm ihre Hand und führte sie in das Geschäft. Es war ganz anders als alle Geschäfte, in denen Pepa jemals gewesen war, sogar anders als Harvey Nics. Ein Mann in einem schwarzen Anzug öffnete ihnen die Tür. Die Verkäuferinnen lächelten freundlich und kamen sofort auf sie zu. Außer ihnen waren noch zwei Kundinnen da, denen Anna kurz freundlich zunickte.
Es waren die schönsten Frauen, die Pepa je in ihrem Leben gesehen hatte. Sie waren Mitte zwanzig, hatten glänzende lange Haare, ein perfektes Make-up und Figuren wie Models. Sie probierten die teuren Kleider an, als hätten sie nie etwas anderes getan.
Anna ließ sich die Handtaschen zeigen und ermunterte Pepa, sich eine auszusuchen. Zögernd deutete sie auf die kleine aus dem Schaufenster. Die Verkäuferin bot Anna und Pepa etwas zu trinken an: Kaffee, Mineralwasser, Champagner? Anna wählte Champagner, und zwei Minuten später hielten sie ihn in der Hand, während die kleine Handtasche kunstvoll in Seidenpapier eingepackt wurde, so als sollte sie verschenkt werden. Anna blätterte, während sie warteten und den Champagner tranken, in einem Katalog, in dem
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