Wenn es daemmert
tauschte er in diesem Moment das Foto der Toten gegen ein neues Bild aus.
Warum hatte sein Vater ausgerechnet dort ein Mädchen ausgesucht? Warum war er Mitglied bei dieser Agentur?
Pepa hatte gesagt: »Illegal.«
In seinem Kopf schwirrte alles. Er musste mit jemandem reden. Nicht mit seinem Vater. Seine Kommilitonen waren nicht mehr als flüchtige Bekannte. Doug und Pete schieden ohnehin aus. Freunde, echte Freunde, hatte er nicht, nicht mehr, seit er nach Eton gegangen war. Er hätte mit Professor Scott geredet, wäre dieser noch hier. Dem hatte er vertraut.
Cedric ließ sich auf sein Bett fallen und schlug die Hände vor sein Gesicht. Das konnte alles nicht wahr sein, er hatte sich das nur eingebildet. Der Stress. Seine Krankheit. Jetzt waren es nicht mehr nur Zwangshandlungen und Phobien, jetzt kamen noch Paranoia, Visionen und Wahnvorstellungen hinzu. Verschwörungstheorien. Sein Vater mache gemeinsame Sache mit einem Menschenhändlerring. In Wirklichkeit war es sicher eine normale Au-pair-Agentur, und er hatte alles nur geträumt.
Cedric stand wieder auf und gab bei Google den Ort ein, den Pepa ihm genannt hatte: Tighina. Er probierte verschiedene Schreibweisen aus, bis er die richtige gefunden hatte. Tighina war eine Stadt in der international nicht anerkannten Transnistrischen Moldauischen Republik. Offiziell war Transnistrien Teil von Moldawien. Pepa kam nicht aus Rumänien. Er suchte einen Lexikoneintrag über Transnistrien: Amtssprachen waren Russisch, Ukrainisch und Moldawisch, ein Dialekt des Rumänischen, geschrieben mit kyrillischen Schriftzeichen. Deshalb hatte sie Schwierigkeiten mit dem Lesen gehabt.
Kein Fehler also in der Datenbank und keine Einbildung von Cedric. Pepa war keine EU -Bürgerin. Der Junge, dessen Profil er online gesehen hatte, kam aus der Ukraine. Ebenfalls kein EU -Staat.
Er war nicht paranoid. Er hatte Recht: Menschenhandel.
16.
Pepas neues Zimmer war mindestens so schön wie das in Cedrics Haus. Es war zwar kleiner, aber dafür war das Haus nicht so schrecklich alt und gruselig. Es war ein sehr modernes Haus, um das andere moderne Häuser herumstanden. Sie waren gelb gestrichen. Vor dem Haus gab es einen großen Parkplatz für die Leute, die hier wohnten. Auf jeder Etage war eine abgeschlossene Wohnung. Die Haustür ging automatisch auf, wenn man die richtigen Zahlen in einen Kasten eingetippt hatte. Das Haus hatte sogar einen Aufzug. Pepa fühlte sich wie im Himmel. Sie hätte gleich mit dieser Frau mitgehen sollen, als sie zum ersten Mal miteinander gesprochen hatten. Aber da hatte sie noch nicht gewusst, wie schön es bei dieser Frau war.
Pepa durfte sie Anna nennen, und sie war überglücklich, endlich wieder ihre eigene Sprache sprechen zu dürfen, denn Anna sprach viele Sprachen: Russisch, Ukrainisch und Rumänisch, weshalb sie Pepa verstand. Natürlich konnte sie auch Englisch, und sie sagte, sie beherrsche außerdem noch Deutsch und Französisch und sogar ein wenig Türkisch. Es sei leicht, neue Sprachen zu lernen, wenn man einmal damit angefangen hätte. Gerade lerne sie Italienisch.
Anna erklärte ihr, dass dies ihre eigene Wohnung war, aber dass ihr im selben Haus noch andere Wohnungen gehörten, in denen Mädchen wie Pepa lebten. In der ganzen Stadt gab es schöne Häuser mit solchen Wohnungen, in denen Mädchen wie Pepa wohnen konnten, erklärte Anna. Pepa müsste sich nur überlegen, wie sie leben wollte, und dann würde man etwas Passendes für sie finden. Pepa strahlte.
»Einfach so?«
Anna lachte. »Nein, natürlich nicht einfach so. Wer so leben will, muss dafür arbeiten.«
»Ich kann arbeiten«, sagte Pepa schnell. »Ich habe meinen Eltern immer geholfen. Ich kann alles machen. Der Mann hat gesagt, ich bin gut.«
»Der Mann wollte dich aber nicht für deine Arbeit bezahlen. Er ist ein Betrüger, aber das weißt du ja jetzt.«
Pepa nickte. Sie hatten heute Morgen lange über den Mann gesprochen, und Anna hatte ihr genau erklärt, warum der Mann ein Betrüger war und was er mit Pepa vorgehabt hatte. Pepa war froh, dass sie weggelaufen war, obwohl sie gar nicht seinetwegen weggelaufen war. Nun, vielleicht ein bisschen schon. Sie hatte den Mann nämlich nicht leiden können und ein bisschen Angst vor ihm gehabt, obwohl er ihr nichts getan hatte.
»Du musst froh sein, dass dir noch nichts passiert ist«, hatte ihr Anna erklärt, nachdem sie sich in der Bar in der Nähe der Salamander Street getroffen hatten und in diese Wohnung gefahren
Weitere Kostenlose Bücher