Wenn Es Dunkel Wird
Stunden geträumt zu haben.
Tammy stand auf einmal hinter der Couch, die Arme in die Hüfte gestemmt, und sah zu ihrem Bruder hinunter. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sie weg gewesen war. »Sag mal, hast du meinen iPod genommen?«, fragte sie mit deutlicher Verärgerung in der Stimme.
»Nee, wieso?« Julian schüttelte gähnend den Kopf.
»Ich hatte ihn auf den Schreibtisch in meinem Zimmer gelegt«, sagte Tammy nachdrücklich. Ihr Blick wanderte zu mir, worauf ich bloß herausfordernd auffällig die Augenbrauen hob.
»Auf den S-e-k-r-e-t-ä-r meinst du wohl.« Julian lachte bekifft und Claas kicherte mit.
»Das ist überhaupt nicht komisch!«, protestierte Tammy mit einem Blick auf Claas, der sofort verstummte. »Du weißt genau, was dieser Bulle gesagt hat, von wegen Dieben und so!«, wandte sie sich wieder an ihren Bruder.
»He Tammy«, Julian zog sie an ihrem Arm zur Couch herunter. »Jetzt chill mal, wenn du ihn dahin gelegt hast, liegt er da noch.«
Clever, Julian, dachte ich und nahm einen Zug aus der Wasserpfeife.
»Er ist aber nicht da!« Tammy riss so schwungvoll ihren Arm los, dass sie beinahe hinfiel. Sie konnte sich gerade noch an der Rückenlehne festhalten.
»He!« Claas lachte. »Vielleicht hast du ihn einfach in deinem Zustand übersehen, woandershin gelegt, keine Ahnung?«
»Wieso Zustand? Meinst du, ich werde von dem bisschen Zeug high oder was?«, blaffte sie ihn an.
Jetzt lachten beide laut, Claas und Julian. Claas lachte wie Julian. Unter anderen Umständen wäre das mein Stichwort gewesen, um einzuschreiten, mich auf die Seite der Ausgelachten zu schlagen und sie zu verteidigen. Unter normalen Umständen – also wenn ich Tammy gemocht und Julian nicht so gut ausgesehen hätte.
Stattdessen zog ich tief den Rauch ein und dachte: Wunderbar, wie im Kino. Gleich würde einer eine Kanone ziehen oder Tammy würde Julian eine kleben oder Claas …
»Vielleicht hast du ihn vorhin in eine Tasche oder eine Jacke gesteckt«, meinte Julian langmütig, nachdem er und Claas wieder ernst geworden waren.
»Quatsch«, sagte Tammy und warf jetzt mir feindselige Blicke zu.
»Ich war’s nicht, wenn du mich meinst.« Ich reckte herausfordernd lächelnd das Kinn.
»Mann, Tammy, hier war doch niemand!«, sagte Julian.
In dem Moment spürte ich, wie etwas in mir nach unten rutschte, als würde sich mein Inneres vom Äußeren ablösen und dem Gesetz der Schwerkraft folgen. Mein Gehirn sank in die Beine, Füße und noch tiefer. Ich wollte mich irgendwo festhalten, griff ins Leere oder vielleicht bewegte ich mich auch gar nicht, aber dann stürzte ich, tiefer und tiefer, in vollkommene Schwärze, haltlos und bodenlos.
Ja, glaub es ruhig, denn heute wünsche ich mir oft, wieder in so eine Schwärze zu fallen, so tief, dass keine Erinnerung dorthin reicht.
7
Claas erzählte mir am nächsten Tag, dass sie mich wieder auf die Couch gehievt hätten. Und ich erinnere mich, wie Tammy sagte: »Ist doch klar, sie verträgt die Hitze nicht, hab ich ihr gleich angesehen. Und sich dann noch was reinziehen.«
»Wir hätten erst mal was essen sollen«, hörte ich Julian sagen und war ihm dankbar dafür.
Dann spürte ich eine Hand nach meinem Puls tasten. Und als mir klar wurde, dass es Julians Hand war, hämmerte mein Herz wie verrückt. Es war mir egal, dass Tammy sagte: »Kaum hier und schon gibt’s Stress!«
Hauptsache Julian hielt meine Hand.
»So was kann jedem passieren«, sagte er dann noch.
»Mir ist so was noch nie passiert.«
»Und was war das bei der Klettertour vor zwei Jahren?«
»Mann, das war beim Sport, doch nicht beim Kiffen!«
Sie stritten – wegen mir – und irgendwie freute mich das. Meine Lebensgeister kehrten zurück, ich schlug die Augen auf und sah in Julians Gesicht.
»Du bist umgekippt«, erklärte Claas, als wüsste ich das nicht selbst.
»Langsam!«, mahnte Julian. »Langsam aufstehen.«
Ich tat, was er sagte, und sah ihm dabei in die Augen – diese blauen Augen. »Bin ich …«
»Du bist von der Couch runtergerutscht«, kam ihm Claas zuvor.
»Ach …«, sagte ich, ohne meinen Blick aus Julians Augen zu nehmen, »ist mir noch nie passiert.«
Ich sah gerade noch, wie Tammy entnervt aufstöhnte und sich abwendete. Claas und Julian sahen es auch und selbst in dem Zustand, in dem wir uns alle befanden, war wohl jedem von uns klar, dass die nächsten Tage wie ein einziges Feld voller Minen werden würden, unmöglich, nicht auf ein paar von ihnen zu treten. Ich stand
Weitere Kostenlose Bücher