Wenn Es Dunkel Wird
stieg weiter hinauf.
»Mutig, mutig, unsere Mel!«, spaßte Claas wieder. Sonst redete er nicht so mit mir, so albern, in der dritten Person. Wollte er sich damit auf Tammys Seite schlagen?
»Feigling«, erwiderte ich.
»Tammy mag keine Höhlen, hast du doch gehört. Ich kann sie doch nicht allein hier draußen lassen.«
»Du bist einfach bedauernswert«, fauchte ich, als ich an ihm vorbeiging, doch er lachte bloß. Für einen Moment hätte ich ihm am liebsten da auf dem schmalen Steig einen Schubs gegeben. Er hätte keine Chance gehabt, wäre nach hinten gekippt und dann rückwärts fünf Meter hinuntergestürzt, auf steinige Erde geknallt … Nein, ich tat es aber nicht, sondern beschloss, heute nicht mehr mit ihm zu reden. Außerdem beschloss ich, unsere Beziehung zu beenden.
Das Unheimlichste an einer Höhle ist, finde ich, dass sie irgendwo ins Innere des Berges, also in die Erde führt, in eine unbekannte, lichtlose Welt. Und aus der Nähe sah auch dieser Vorhang aus Pflanzen wirklich unheimlich aus. Die Luftwurzeln hatten etwas von knöcherigen Hexenfingern, die Blätter an den verschlungenen Ranken waren spitz und klebrig. Kurz überfiel mich die Vorstellung, in diesem Vorhang wie ein Insekt in einem Spinnennetz gefangen zu sein.
Mel, stell dich nicht so an, sprach ich mir Mut zu, und außerdem: Julian ist da drin. Ich holte Luft, zog den Kopf ein und schlüpfte durch den Pflanzenvorhang in die Höhle.
Finsternis war das Allererste, das ich wahrnahm. Und dann?
Wo soll ich weitermachen?
Beim sumpfigen Geruch? Den Zeichnungen? Den Glasgefäßen – oder … oder bei den Knochen?
Selbst heute, nach so langer Zeit, kann ich mich nicht mehr daran erinnern, was ich zuerst gesehen habe. Stattdessen stürzen alle Erinnerungen gleichzeitig auf mich ein. Vielleicht hat mein Gehirn auch etwas gelöscht, aus Selbstschutz? Wenn man davon ausgeht, dass dies aus einer uralten Überlebensstrategie heraus geschieht, dann hat es wahrscheinlich einen Sinn.
In jenem Moment jedenfalls, als Julians Taschenlampe das Innere der Höhle erhellte – und wer weiß –, vielleicht aus einem jahrzehntelangen Schlaf riss, wollte ich nur wegrennen. Und zugleich konnte ich mich nicht von der Stelle rühren.
Obwohl die Höhle eine Öffnung nach draußen hatte, roch es seltsam. Modrig, süßlich – und bald stellte sich auch heraus, warum. Ich machte einen Schritt in die Dunkelheit, während der Lichtkegel über die Wände mit seltsamen Malereien glitt, und trat dabei auf etwas Weiches. Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man glaubt, auf einem harten Boden zu stehen, und plötzlich steht man auf etwas Nachgiebigem, das sich irgendwie lebendig anfühlt – obwohl es tot ist.
»Hey!« Julian hielt mich fest.
Ich glaube, weil ich aufgeschrien habe. Da glitt der Schein der Taschenlampe schon über meinen Fuß und das, was darunterlag.
Ein toter Hase. Komplett, mit Kopf und Beinen – er war einfach nur tot – und – am Verwesen. Myriaden von Ameisen machten sich über ihn her, es schien fast so, als würde der Hase sich bewegen, doch das war einfach nur die geschäftige, ewig wimmelnde Ameisenkolonie. Dass sich keine Fliegen an dem Tier zu schaffen machten, lag wahrscheinlich nur an dem schwer durchdringbaren Vorhang – oder daran, dass sie schon längst wieder weg waren.
»Pah, ist das eklig«, brachte ich hervor. Ich versuchte, flach zu atmen, hielt mich an Julian fest, schüttelte meinen Fuß, um die Ameisen loszuwerden, die sich auf meinen Schuh verirrt hatten. So schnell wollte ich Julian nicht wieder loslassen. Sein Arm fühlte sich so beruhigend stark und fest an und am liebsten hätte ich meine Nase in sein Hemd getaucht, weil er so gut roch, ja, er noch immer so gut roch, obwohl er schwitzte und obwohl wir hier in diesem Gestank der Verwesung standen. »Nicht gerade eine Chillout-Lounge!«, versuchte er einen Witz und ich lachte sogar ein bisschen, erstickt zwar, aber immerhin.
Kurz, wie ein Windhauch, wehte Sonnenlicht vom Eingang herein, als wollte mich etwas daran erinnern, dass da draußen die helle Welt wartete, dass ich mich bloß umdrehen und wieder hinausspazieren müsste. Aber ich habe das Zeichen übersehen oder ich wollte es vielleicht auch nicht sehen. Ich wollte einfach bei Julian sein. Ganz nah. Auch wenn ich deshalb in dieser Höhle bleiben musste.
»Wie Cromagnon sieht’s nicht aus!«, hörte ich Claas. Er und Tammy waren hereingekommen.
»Was stinkt denn hier so bestialisch?« Tammy.
Im selben
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