Wenn Es Dunkel Wird
sagte einer, ich glaube, es war Claas, während das Licht der Taschenlampe jeden Winkel erkundete.
»He, eine Schatztruhe!« Der Lichtkegel blieb auf eine Kiste gerichtet.
Ich glaube, wir bekamen eine Gänsehaut bei der Vorstellung, was uns wohl erwarten würde, wenn wir sie öffneten. Noch mehr Bücher wie in der auf dem Speicher? Oder noch mehr Grausiges?
»Ich will gar nicht wissen, was da drin ist«, sagte Tammy und wandte sich ab. Ich muss zugeben, dass ich mit ihr ausnahmsweise die Meinung teilte. »Dieser Typ war doch krank!«
»Also, wenn wir nicht alle in der Nacht von dieser Truhe und ihrem Inhalt träumen wollen, sollten wir sie jetzt öffnen«, meinte Claas.
»Und wer sagt uns, dass wir nicht auch von ihrem Inhalt träumen, wenn wir ihn gesehen haben?« Ich war hin- und hergerissen zwischen schauriger Neugierde und meiner Vernunft, die mir schon die ganze Zeit sagte, wir sollten schnellstens hier raus.
»In der Fantasie sind die Dinge oft schlimmer, als wenn wir sie genau betrachten«, meinte Claas, während Julian schon ein Klappmesser gezückt hatte. »Ich nehme noch Wetten an, was drin ist! Na?«
»Es kann nur was Ekliges sein«, sagte Tammy angewidert.
»Glaube ich auch«, sagte ich, »Opfergeräte vielleicht. Blutauffangschalen, Messer, Knochenschaber und …«
»Hör auf, Melody!«, protestierte Tammy.
Julian ließ sein Messer aufschnappen. »Also, ich mach sie jetzt auf.«
Was drin war?
Auf den ersten Blick sah es aus wie wild durcheinandergeratenes Gerümpel für den Flohmarkt. Blechernes Zeug, das im Laufe der Jahre seinen Glanz verloren hatte.
Aber dann holten wir es heraus und betrachteten es genauer.
Ich zählte vier matt schimmernde Kelche, wie man sie aus der Kirche kannte. »Mein Blut«, murmelte Claas, »das für alle vergossen wird …«
»Hör auf, das ist blasphemisch«, sagte ich. Dabei ging ich zwar nicht in die Kirche, aber irgendwie hatten mir meine Eltern und vor allem meine Oma so etwas wie Gottesfurcht eingebläut.
»He, was hast du erwartet von so einem Typen?«, meinte jetzt Julian und hielt auf einmal einen kurzen Dolch mit einem bunt verzierten Griff in der Hand.
»Sieht irgendwie nach Fasching aus«, Tammy zog mit spitzen Fingern einen schwarzen, seidig glänzenden Umhang heraus.
»Eher nach Ritualutensilien.« Claas nahm den Dolch und hielt ihn sich mit der Spitze nach oben gerichtet vors Gesicht.
»Du meinst, er hat damit die Tiere getötet und die Embryonen heraus…« Nein – das war wirklich zu widerlich.
»Kann gut sein«, sagte Claas und grinste. Julian fuchtelte mit dem Dolch herum und stieß Claas die Spitze vor den Bauch, ohne ihn zu berühren, worauf sich Claas rückwärts auf die Polster fallen ließ.
»Mann, hört auf damit!«, sagte Tammy. Julian lachte und warf den Dolch lässig zurück in die Kiste.
»Tammy hat recht, Alter, hier gibt’s nur Tieropfer«, sagte Claas mit einem Grinsen und klopfte auf das Polster neben sich. Im fahlen Schein der Taschenlampe stieg eine Staubwolke auf. »Und hier der Lounge-Bereich unserer Underground-Bar.«
Die Taschenlampe stand so auf dem Boden, dass sie nach oben strahlte und den Raum in ein diffuses, indirektes Licht tauchte. Wir sehen wie Zombies aus, dachte ich.
Julian ließ sich mit einer Flasche neben Claas sinken. »Wodka dürfte doch nicht schlecht werden.« Er nahm einen kräftigen Schluck.
»Julian!« Tammy sprang vor. »Wer weiß, was da drin ist!«
In diesem Moment verzog sich Julians Gesicht, er spuckte in hohem Bogen das Zeug aus, ließ die Flasche fallen und schlug die Hand auf den Mund.
»Julian!« Tammy stürzte auf ihn zu. »Ich hab dir gesagt …« Julian verdrehte die Augen und seine Glieder zitterten.
»Wasser!«, schrie ich und riss eine Wasserflasche aus dem Rucksack.
Claas versuchte, Julian festzuhalten, dessen Hände jetzt verkrampften. »Was machen wir denn nur?« Ich geriet in Panik. Nicht nur ich. Tammy riss mir die Flasche aus der Hand. »Julian! Mach den Mund auf!«
Wir schrien alle durcheinander. Gift, natürlich! Wieso konnten wir davon ausgehen, dass es normaler Wodka war? Der Typ war durchgeknallt! Er füllt sonst was ab und schreibt Wodka aufs Etikett!
»Julian, bitte!« Tammy flüsterte diese Worte immer wieder vor sich hin, während sie versuchte, ihrem Bruder Wasser einzuflößen. »Mann, das darf nicht sein!« Sie strich über sein Gesicht, seine Stirn. »Gleich, gleich wird es besser, trink das!« Wie zärtlich und mitfühlend sie war.
Julian stöhnte
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