Wenn Es Dunkel Wird
weiter und stieß auf jene schicksalhafte Seite.
Henry Paige hatte mit feinen Bleistiftstrichen etwas gezeichnet, dessen Bedeutung sich nicht unbedingt auf den ersten Blick erschloss. In seiner krakeligen Schrift hatte er darübergeschrieben: SECRET CAVE.
Preisfrage: Wie macht man jemanden neugierig?
Genau: Indem man »verboten« oder »geheim« darüberschreibt.
Es hat funktioniert. Wir sind in die Falle gegangen.
Alle vier.
Auf der folgenden Seite hatte er eine Karte aufgemalt, die wir als Wegbeschreibung von der Villa zum SECRET CAVE, einer geheimen Höhle, identifizierten. Eine rote Linie führte hinauf ins Gebirge und endete an einem Kreuz.
»Leider hat Mister Paige Kilometerangabe und Maßstab vergessen!«, rief Claas aus und nahm einen langen Zug aus der Shisha.
»So weit kann das nicht sein, der Typ sieht auf dem Foto nicht gerade sportlich aus«, meinte Julian.
»Ihr wollt doch nicht im Ernst dorthin!«, sagte Tammy genervt.
»Na klar!«, kam es von Julian und Claas wie aus einem Mund.
Wie naiv waren wir eigentlich? Haben wir geglaubt, wir könnten das Spiel einfach beginnen und aufhören, wann wir wollten? Haben wir nicht einen Moment daran gedacht, dass man manche Spiele bis zum Ende spielen muss?
13
Um neun Uhr am nächsten Morgen stand Vincents Sohn Patrick mit dem Glaser vor der Tür, der die Scheibe der Terrassentür ersetzen wollte. Das trifft sich gut, meinte Julian, dann könnten wir ja gleich loswandern. Tammy zögerte erst, doch alleine wollte sie auch nicht zu Hause bleiben.
Und so stapften wir um halb zehn einen schmalen Pfad hinauf in die Berge, von dem wir annahmen, dass er der roten Linie auf der Karte entsprechen musste. Das heißt, Claas war überzeugt davon, dies müsse der Weg sein, und wir folgten ihm. Julian in seinen Ralph-Lauren-Klamotten und Tammy in einem blauen Lacoste-Kleid.
Claas und ich waren wie immer weniger spektakulär gekleidet. Er trug eine kurze Hose und ein verwaschenes T-Shirt und ich meine H&M-Shorts und ein einfaches Trägershirt. Außerdem noch eine weiße Kappe gegen die Sonne.
In einen Rucksack hatten wir zwei Flaschen Wasser gepackt, die Patrick uns netterweise aus dem Ort mitgebracht hatte, eine Rolle Kekse, Bananen und Müsliriegel – falls die Höhle doch weiter weg lag, als vermutet.
Wenn ich einmal verdränge, was noch kommen sollte, war es ein herrlicher Wanderweg: Knorrige, uralte Olivenbäume krallten sich an den Felsen fest, darunter leuchteten winzige Blüten lila und pink und gelb zwischen Gräsern, die in allen Grüntönen vor sich hin wucherten, es duftete nach Rosmarin und Thymian. Vor uns ragten stolz und schroff die Steinwände des Gebirges in den strahlend blauen Himmel, drehte man sich um, schaute man auf das funkelnde Meer, während hoch über einem majestätische Raubvögel mit schwarzen, weiten Schwingen ihre Bahnen zogen.
Aber die Hitze! Schon eine Stunde, nachdem wir losgewandert waren, brannte die Sonne wie durch ein Brennglas. Ich spürte förmlich, wie meine Haut rot wurde, und mir kam es vor, als würde es von Minute zu Minute heißer.
Und dann – tatsächlich: eine Markierung. Bräunlich wie getrocknetes Blut. Julian entdeckte sie auf einem Felsen. Er und Tammy hatten inzwischen die Führung übernommen, während Claas und ich hinter ihnen herschnauften.
»Ist wahrscheinlich ein ganz normaler Wanderweg«, Julian drehte sich zu uns um, »wetten, dass wir nach drei Stunden zu ’ner Hütte mit Selbstbedienung kommen?«
»Seufzerjoch!«, sagte Tammy. Sie und Julian sahen sich an und lachten.
»Was ist Seufzerjoch?«, wollte Claas wissen.
»Ach«, fing Julian an, »war mal eine ewig lange Wanderung mit unseren Eltern. Tammy hatte gerade laufen gelernt!«
»Quatsch!« Tammy lachte und versetzte ihm einen Stoß in die Rippen. »Ich war mindestens zwölf!«
»Sag ich doch!«, spaßte Julian und boxte verhalten zurück. »Papa hat gedacht, er braucht keine Wanderkarte, und wir sind tausend Umwege gegangen, bis wir endlich auf dieser Hütte ankamen.«
»Und oben war’s total voll«, redete Tammy weiter, »weil ein bequemer, ausgeschilderter Wanderweg hinaufgeführt hätte. Mama ist mal wieder ausgeflippt!«
Die beiden lachten wieder und ich spürte einen Stich in meinem Bauch. Eifersucht, aber das wollte ich mir nicht eingestehen.
Es wurde steiler, heißer und wir redeten nur noch das Nötigste.
Es war das Buch, das mich während des Aufstiegs beschäftigte. Ich glaube, jeder machte sich so seine eigenen Gedanken,
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