Wenn Es Dunkel Wird
Ahnung, vielleicht, von Freundinnen oder Reiseplänen. Überleg doch mal, wenn du einen Sohn hättest, der plötzlich verschwindet, würdest du doch auch alle möglichen Leute fragen, ob sie irgendwas wissen, oder?«
Ich schluckte, ich wollte mir das lieber gar nicht so genau vorstellen. »Und was hat Julian gesagt, als seine Eltern ihm von Vincents Anruf erzählt haben?«
»Wir hätten nicht viel mit ihm zu tun gehabt, aber ihm sei aufgefallen, dass Patrick von diesem Schriftsteller angefangen habe, dem vorher die Villa gehört hat. Julian hätte gar keine Ahnung von der Geschichte der Villa gehabt, er aber schon. Und Patrick war fasziniert davon, dass Herny Paige so plötzlich spurlos verschwunden ist, und gemeint, bestimmt wäre er untergetaucht und hätte woanders ein neues Leben angefangen.«
Ich wunderte mich über Julians Improvisierkunst. »So ein Quatsch! Und das haben sie geglaubt?«
»Warum sollten sie das nicht, Mel?«
Ich schüttelte den Kopf. In dieser Sache konnte ich schon lange nicht mehr klar denken, geschweige denn unterscheiden, was glaubwürdig und was völlig weit hergeholt klang.
»Warum erzählt Julian so was? Warum noch mehr Lügen?«
»Aber Mel, denk doch mal nach!« Er lächelte wieder auf seine überlegene, spöttische Art. »Die Aufmerksamkeit wird doch dadurch in eine andere Richtung gelenkt. Er denkt, sein Sohn will es Henry Paige nachmachen.«
»Claas, mal echt jetzt, wer glaubt denn so einen Scheiß?«, rief ich aufgebracht. »Auffälliger geht es ja wohl nicht, und nur weil Vincent Gärtner ist, ist er doch nicht blöd!«
»Julian musste irgendwie reagieren und ich finde, so schlecht hat er das nicht gemacht.«
»Du machst dir doch nur selbst was vor, damit du nicht vollends die Nerven verlierst. Wenn du nämlich klar denken könntest, dann …«
»Jetzt mach mal halblang, Mel, die Sache ist verdammt ernst und Julian hat das Beste aus der Situation gemacht!«
Ich gab auf, es war sowieso zu spät. »Hoffentlich weiß auch Tammy Bescheid.«
Claas nickte. »Alles schon erledigt. Also, falls der Gärtner doch aus irgendwelchen Gründen …«
»Was für Gründe meinst du?«
»Langsam, Mel, falls er also vielleicht dich oder deine Eltern …«
»Wieso sollte er meine Eltern anrufen!« Ich schrie fast.
»Nicht so laut, verdammt noch mal! Es ist unwahrscheinlich, sehr unwahrscheinlich, ich wollte dir nur sagen, bleib einfach bei der Version, okay?« Die letzten Worte rief er schon im Laufen, denn seine U-Bahn fuhr gerade ein.
Ich habe ihm nachgestarrt, und als er mir dann noch aus der fahrenden U-Bahn zuwinkte, hätte ich am liebsten laut aufgeschrien. Ich war sicher, ganz sicher, Vincent ahnte etwas. Und wenn er jetzt zur Polizei gehen und ihnen diese idiotische Henry-Paige-Geschichte erzählen würde? Yannis war vielleicht eingebildet und eitel, aber dumm war er nicht. Er würde sofort an uns denken.
In der Nacht schlief ich so gut wie überhaupt nicht. Ich nahm aber auch keine Schlaftabletten, weil ich Angst hatte, sonst völlig die Kontrolle zu verlieren.
Danach hatte ich mich wieder besser im Griff, denn letztendlich war doch eines klar: Selbst wenn Vincent doch zur Polizei gehen sollte – falls er es wirklich tun würde –, ein Jugendlicher mit der Idee, einfach abzuhauen, war ja nichts Außergewöhnliches.
Trotzdem blieb die Angst. Sie war bei mir, die ganze Zeit. Kennst du das, wenn dir die Angst wie etwas ganz Schweres im Magen liegt, dir im Nacken sitzt, dich niederdrückt?
Meine Eltern und ich aßen meistens abends zusammen. Obwohl meine Mutter viel im Laden arbeitete – sie erledigte alle Bestellungen, eine immense Arbeit, weil wir immer wieder neue Produkte im Angebot hatten, mal einen Wein von einem besonderen Weingut in der Toskana oder einen ewig lang gereiften Ziegenkäse aus Andalusien –, kochte sie. Früher hatte ich ihr manchmal dabei geholfen und dann über vieles geredet. Nur über Jungs konnte man mit ihr nicht sprechen. Aber nach Frankreich und nach dieser Mail vermied ich es, mich mit ihr allein in der Küche aufzuhalten. Dann hätte sie mich garantiert gelöchert, warum ich so verschlossen sei. Ob mich irgendwas bedrückte. Ehrlich – ich war schon mehrmals nahe dran gewesen, ihr alles zu erzählen. Aber dann machte ich mir klar, dass das eine kindliche Sehnsucht war: Du gehst zu deiner Mama und die versteht dich und holt dich aus dem Schlamassel raus.
Auch die Abendessen zu Hause umging ich, gab vor, fürs Abi lernen zu müssen, und
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