Wenn Es Dunkel Wird
müssen nur an so einen obereifrigen Bullen geraten, einen, der sich was beweisen will, und schon sind wir geliefert!«
So hatte ich Claas noch nie erlebt. Bisher war er immer derjenige, der die Nerven behalten hatte und klare Gedanken fasste.
»Weißt du, was ich mich frage?«, sagte er nachdenklich. »Ob es jemand von uns ist.«
Die Idee war mir zwar auch schon gekommen, aber ich hatte sie wieder verworfen. Was sollte einer von uns mit diesem Spiel bezwecken?
Er sah über meine Schulter hinweg zum Eingang. Sein Gesicht hellte sich auf, jedenfalls für einen kurzen Moment. Ich brauchte mich nicht umzudrehen. Ich ahnte, wer sich den Weg an unseren Tisch bahnte.
»Hi«, sagte Tammy knapp, ohne mich länger als eine halbe Sekunde eines Blickes zu würdigen – und setzte sich neben Claas, der für sie ein Stück auf der gepolsterten Bank zur Seite rückte.
Auch sie hatte sich verändert.
Ihrer gesamten Erscheinung fehlte das Strahlen, das sie einst umgeben hatte. Sie sah erschöpft aus, müde, als könnte sie nicht mehr schlafen – so wie ich.
Dabei war sie doch in Kalifornien gewesen.
»Smog in L. A. oder was?«, fragte ich und meinte ihren gesamten Auftritt. Sie sah mich nur feindselig an.
»Kommt Julian nicht?«, fragte ich und drehte mich zur Tür um. Da sah ich ihn hereinkommen. Er war genauso blass wie letztes Mal, als ich ihn an der Kasse hatte stehen sehen.
»Hallo«, sagte er nur und ließ sich auf den Stuhl neben mir sinken, als wäre er fünfzig Kilometer zu Fuß durch den Schnee gelaufen.
Meinem Blick wich er aus.
»Also Leute«, fing Claas an. »Mel meint, wir sollten zahlen. Was meint ihr?«
Tammy hatte nervös mit ihrem iPod gespielt, jetzt ließ sie ihn abrupt auf den Tisch fallen. »Spinnt ihr?«, brauste sie auf. »Man weiß doch, wie so was läuft! Erpresser fordern immer weiter! Es hört nie, nie, niemals auf!«
Die Jungs am Nebentisch sahen zu uns herüber, weil Tammy den allgemeinen Geräuschpegel übertönt hatte.
»Tammy«, sagte Julian, »langsam, noch ist ja nichts entschieden.« Julian fuhr sich durch das glanzlose Haar. »Wie sollen wir denn das Geld übergeben?« Seine Stimme klang irgendwie hoffnungslos, als hätte er sich damit abgefunden, sein Leben lang diese Schuld mit sich herumtragen und dafür zahlen zu müssen.
»Ja, genau, wie sollen wir ihm das Geld zahlen?«, fragte ich jetzt auch.
Julians Blick streifte mich kurz.
»Ich bin sicher«, Claas schien sich wieder gefangen zu haben, »dass der Typ nicht vergessen wird, uns das mitzuteilen!«
Wir saßen eine Weile so da, schwiegen uns an und beobachteten abwesend das Treiben um uns herum. Wir hatten geglaubt, wir kämen davon. Und jetzt …
»Das Video beweist nichts«, sagte Julian auf einmal und senkte sein Kinn wieder in den Kragen seiner Daunenjacke, die er trotz der Wärme im Café angelassen hatte.
»Vor Gericht darf so was nicht verwendet werden, das weiß doch jeder«, warf ich ein.
»Ja, aber sie könnten die Höhle genauer untersuchen, nach Fasern und so etwas«, meinte Claas und fügte hinzu: »Vorausgesetzt, sie finden die Höhle.«
»Der Typ blufft«, sagte Julian mit geschlossenen Augen, als würde er mit sich selbst reden, »und wenn wir zahlen, weiß er, dass wir etwas mit der Sache zu tun haben.«
»Und was sollen wir dann deiner Meinung nach tun?« Claas sah ihn stirnrunzelnd an. Julian öffnete die Augen, er zuckte mit den Schultern. »Wir ignorieren die Mail einfach.«
»Ab in den Papierkorb oder wie?«, sagte ich.
Julian nickte und dabei sah er mich das erste Mal richtig an.
Wir hätten auf ihn hören sollen. Aber wir hatten nicht die Nerven dazu.
28
Schon zwei Tage später traf ich Claas wieder.
»Julian hat mir gesagt, dass Vincent mit uns reden will. Er hat die Wagners angerufen«, sagte er leise auf der Rolltreppe zum U-Bahnsteig, als könnte uns jemand belauschen.
»Wieso will er ausgerechnet mit uns reden?«
»Was weiß ich!«, schrie er mich an. Eine Frau mit Kind an der Hand drehte sich zu uns um.
»Sorry.«
»Nein, Mel …« Er hatte etwas Gehetztes, Verzweifeltes an sich. Von seiner früheren lässigen Überlegenheit war nichts mehr zu spüren. »Ich … ich weiß gerade auch nicht weiter!«
Wir schwiegen einen Moment.
»Julians Eltern meinten, es sei doch wohl völlig verständlich, dass Vincent hofft, wir wüssten etwas. Bestimmt glaubt er, dass sein Sohn uns irgendwas erzählt hat. Weil er ja ab und zu am Haus zu tun hatte.«
»Was erzählt?«
»Na ja, keine
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