Wenn Es Dunkel Wird
August.
Der Ort hatte sich vollkommen verändert.
Als wären achtzig Prozent der Bevölkerung von der Pest oder einer anderen Epidemie hingerafft worden, waren viele der Läden und Cafés geschlossen, und zwar seit Monaten schon. Vor den Klappläden hatten sich Laub und Müll gesammelt.
Kaum jemand war auf der Straße unterwegs, der Verkehr war vernachlässigbar und Touristen sah man überhaupt keine mehr.
»Halt mal da drüben!« Claas, der neben mir saß, klopfte Julian auf die Schulter. »Ich will noch Zigarettenpapier kaufen.«
Während wir im Auto am Bordstein darauf warteten, dass er wieder aus dem Laden käme, der übrigens nur zwei Häuser neben dem lag, in dem ich die Tarot-Karten gekauft hatte, fragte Julian: »Findet ihr Claas nicht auch irgendwie anders?«
Tammy sah von ihren lackierten Nägeln auf, die sie sich gerade feilte. »Wieso? Er hat die Nerven behalten. Und er hat recht. Ich will nicht in den Knast. Um keinen Preis.«
Nachdenklich sah Julian aus dem Fenster zum Laden und kniff die Augen zusammen. »Im Grunde hat er ihn getötet. Er hat ihm den Dolch reingerammt.«
Ich schluckte. »Du vergisst, dass er danach noch lebte und wir alle …«
»Ich wollte ihn retten«, unterbrach mich Tammy.
»Hören wir doch auf«, sagte ich, »wir haben es alle zusammen gemacht.«
Julian trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad. »Er spielt sich ziemlich auf.«
»Er versucht uns wenigstens heil durch die Sache durchzubringen.« Ich ärgerte mich über Julian.
»Melody hat recht«, stimmte Tammy mir überraschenderweise zu. Im Rückspiegel ihrer heruntergelassenen Sonnenblende bedachte sie mich sogar mit einem nicht ganz unfreundlichen Blick.
Claas riss die Autotür auf. »So, für ein paar Joints wäre schon mal gesorgt.«
Julian startete den Motor, da sah ich den Polizeiwagen auf uns zukommen.
Mein Herz stockte.
»Einfach cool bleiben, Leute«, sagte Julian, »wir wollen zusammen fürs Abi lernen.«
Da hielt der Wagen schon neben uns, Yannis ließ die Scheibe herunter. »Bonjour!« Er nickte uns zu. »So schnell wieder hier? Unser Dörfchen gefällt Ihnen, ja?«
»Oui, Les Colonnes est très joli«, sagte Julian und Tammy lächelte gezwungen. Yannis’ Blick wanderte über unsere Gesichter und blieb an meinem haften. Ich setzte ein unverbindliches Lächeln auf und verdrängte die Erinnerung an sein eindeutiges Angebot, mir noch andere Clubs in der Gegend zeigen zu können.
»Jaja«, pflichtete Claas Julian bei, »aber es hat sich ja zum Glück noch nicht bei den Touristen herumgesprochen.« Er zeigte nach draußen in die leeren Straßen, die geschlossenen Läden.
»C’est hors de saison! Es ist keine Saison«, erwiderte Yannis mit einem leichten Schulterzucken.
»Und ist in Ihrem schönen Örtchen etwas Neues passiert?«, versuchte ich unauffällig das Gespräch zu lenken.
Yannis’ Blick bekam wieder dieses Diabolische. »Was soll denn passiert sein?«
In dem Augenblick war ich sicher, er hatte uns die Mails geschrieben.
»Ein Banküberfall vielleicht?«, spaßte ich.
»Nein«, er lächelte etwas gezwungen, »nur ein paar Todesfälle.«
Ich spürte förmlich, wie uns allen der Atem stockte. Sie haben die Leiche gefunden – ich wusste es.
»Tja, das bleibt nicht aus«, sagte Claas in lockerem Konversationston, »c’est la vie, n’est-ce pas?«
»Ja, der Tod gehört zum Leben dazu«, sagte Yannis, auf einmal wieder fast locker und freundlich. »Wie lange bleiben Sie?«
»Leider nur ein paar Tage«, antwortete Julian.
»Das hat schon so manch einer gesagt«, erwiderte Yannis, »und ist dann für den Rest seines Lebens hier hängen geblieben.«
Bevor ich noch über diese möglicherweise zweideutige Bemerkung nachdenken konnte, sagte Claas lachend: »Wollen Sie mit uns wetten?«
»Mais non!« Yannis lachte. »Aber nein! Ich bin schließlich Polizist, Sie wissen schon, Glücksspiel und Wetten und so sind für unsereins tabu!«
Ich konnte Yannis nicht einschätzen: Spielte er mit uns? Wusste er mehr? Ahnte er etwas? Steckte er selbst hinter der Erpressung?
»Übrigens«, sagte Yannis jetzt wieder ernsthafter. »Der Sohn von Vincent, eurem Gärtner, ist verschwunden.« Und er fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Genau in der Zeit, als ihr da gewesen seid.«
»Als wir abgereist sind«, berichtigte Claas und Yannis’ Blick heftete sich auf ihn.
»Ach, ja, richtig«, erwiderte Yannis und zog seine Antwort fast genüsslich in die Länge, »ihr scheint es ja genau zu
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