Wenn es Nacht wird in Manhattan
Frau im Bett ihre Anwesenheit plötzlich gespürt hätte, öffnete sie die Augen. Sie waren von einem wässrigen Blau, blutunterlaufen und trübe. Mit einem verwirrten Stirnrunzeln betrachtete sie die Besucher in ihrem Zimmer.
“Tippy?”, fragte sie mit krächzender Stimme.
“Ja”, bestätigte sie, ohne näherzutreten.
Die alte Frau seufzte. “Danke, dass du gekommen bist. Ich weiß, dass du es nicht gern getan hast. Ist das Rory?”, fragte sie und starrte ihn durchdringend an. “Mein Gott, bist du gewachsen.”
Keiner von ihnen sagte ein Wort.
Die alte Frau schien über ihre Zurückhaltung nicht weiter erstaunt zu sein.
“Sie können nichts mehr für mich tun”, erzählte sie. “Ich habe versucht, trocken zu werden. Ich bin seit Jahren nicht mehr nüchtern gewesen. Es hat mir nicht gefallen”, fügte sie mit schleppender Stimme hinzu. “Ich habe angefangen, mich an Dinge zu erinnern, an schreckliche Dinge, die ich euch beiden angetan habe.” Sie schnappte nach Luft, hustete und krümmte sich. “Ich habe mit einem Priester gesprochen. Er hat gesagt, keine Sünde sei so groß, dass sie nicht vergeben werden kann.” Sie sah Tippy in die Augen. “Ich erwarte nichts von euch und bitte um nichts”, fuhr sie fort. “Ich wollte mich nur entschuldigen für alles, was ich euch angetan habe. Wenn ich es ungeschehen machen könnte, würde ich es sofort tun.” Wieder atmete sie schwer. “Ich habe mit der Polizei gesprochen. Ich hab ihnen alles erzählt, wie Sam und ich die Entführung geplant haben, um an Geld für Drogen zu kommen. Ich habe ihnen Namen und Orte genannt, alles, was sie wissen wollten. Sam wird sein Lebtag nicht mehr aus dem Gefängnis kommen, das steht schon mal fest. Euch beiden kann nichts mehr passieren.”
Tippy schaute zu Rory und Cash, deren Gesichter ebenso ausdruckslos waren wie ihr eigenes. Mit den wenigen Worten konnte sie das Elend nicht aus der Welt schaffen, und ihre Entschuldigung kam zu spät, um noch etwas ändern zu können.
Die alte Frau schien das zu wissen. Sie schloss die Augen. “Tippy, ich wünschte, ich könnte dir sagen, wer dein Vater ist, aber ich weiß selbst nicht mehr als seinen Vornamen, Ted, und dass er schnelle Autos mochte. Das ist die reine Wahrheit. In der Nacht damals war ich so high, dass ich mich kaum an etwas erinnern kann. Aber ich weiß, wer Rorys Dad ist. Er steht hinter dir.”
Mit angehaltenem Atem blickte Rory auf den Polizisten, der sie so freundlich in Empfang genommen hatte. Er wirkte schockiert. Tippy dagegen lächelte erleichtert, weil nicht Sam Stanton sein Vater war.
“Vielleicht entschädigt dich das ja ein wenig für all die schlimmen Dinge, Rory”, fuhr sie fort. “Ich erzähle deinem Vater heute übrigens zum ersten Mal, dass du sein Sohn bist. Es … es tut mir wirklich leid. Wirklich sehr, sehr leid.” Damit schloss sie die Augen.
Sie sollte sie nie wieder öffnen.
Die Totenfeier war sehr bescheiden, und nur wenige Leute nahmen an der Beisetzung teil. William James war sehr zurückhaltend gegenüber Rory, der sich in seiner Gegenwart seltsam gehemmt fühlte. Aber die Beziehung würde sich entwickeln und enger werden, denn sie hatten ihre Adressen ausgetauscht und wollten sich regelmäßig schreiben. Sergeant James war ein Witwer ohne Kinder; Rory würde also einen wichtigen Platz in seinem bislang weitgehend leeren Leben einnehmen.
Ihre Mutter hinterließ ihnen nur wenige persönliche Dinge, dafür aber eine Menge Schulden. Tippy kümmerte sich darum, und sie bezahlte auch die ausstehende Miete für den Wohnwagen, in dem ihre Mutter gelebt hatte. Sie tat dies alles kühl und ohne Emotionen, denn sie konnte den Schmerz und das Leid nicht vergessen, das sie durch sie erlitten hatte. Alles, was sie empfand, war ein Gefühl der Erleichterung. Und Rory erging es ebenso.
Tippy und Rory flogen mit Cash zurück nach Jacobsville. Cash hatte bereits mit den Ermittlern gesprochen und erfahren, dass die Aussage, die Mrs. Danbury auf dem Sterbebett gemacht hatte, Sam Stanton lebenslänglich hinter Gitter bringen würde, und seine Kumpane ebenfalls. Die Verhandlung würde in einigen Monaten beginnen, und Tippy und Rory freuten sich bereits darauf, endlich ihre Aussagen machen zu können.
Mit der Zeit gewann Tippy den Eindruck, dass ihre größten Sorgen verschwunden waren. Ihre Wunden und Prellungen waren verheilt, und ihre Rippen waren ebenfalls wieder in Ordnung. Sie schwebte nicht länger in Lebensgefahr. Sie konnte wieder
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