Wenn es Nacht wird in Manhattan
fühle ich mich wirklich verheiratet”, stieß sie mit heiserer Stimme hervor.
“Ja”, sagte er unsicher und küsste sie auf die geschlossenen Augen. “Jetzt fühle ich mich auch so.”
Die folgenden Tage waren ein wundervoller Rausch. Cash und Tippy wurden immer vertrauter miteinander. Beim Händchenhalten beobachtete Rory sie mit einem verschmitzten Lächeln. Er war ein Teil der Familie. Er hatte seinen Platz in der Welt gefunden. Nie zuvor war er so glücklich gewesen.
Tippy ging es genauso, obwohl da immer noch diese nagende Sorge war, die sie einfach nicht losließ. Sie wusste, dass etwas geschehen würde – etwas Unangenehmes. Doch auf keinen Fall sollte Cash etwas von ihrer großen Angst mitbekommen.
Am Freitag saß sie auf heißen Kohlen, während sie auf Rorys Rückkehr wartete. Er war mit seinem neuen Freund und dessen Familie in ein Einkaufszentrum nach Houston gefahren. Auch über Cash, der auf der Arbeit war, machte sie sich Gedanken. Sie hätte zu gerne gewusst, welche Art von Unheil drohte. Aber ihre Gefühle waren zu vage, um Rückschlüsse darauf zuzulassen.
Wenige Stunden bevor Cash zurückkommen sollte, klingelte das Telefon. Hastig griff Tippy zum Hörer. Die Stimme am anderen Ende klang irgendwie vertraut.
“Hier spricht Sergeant William James”, meldete er sich. “Vom Polizeirevier in Ashton, Georgia”, half er ihrem Gedächtnis auf die Sprünge.
“Ja, ich erinnere mich an Sie!”, rief sie. Vor Jahren war er ein Nachbar ihrer Mutter gewesen. In jener Nacht, als Sam Stanton sie vergewaltigt hatte, war er ihr zu Hilfe gekommen. Er war es auch gewesen, der sie benachrichtigt hatte, als es darum ging, die Vormundschaft über den gerade vierjährigen Rory zu übernehmen.
“Ich habe eine Nachricht für Sie”, fuhr er fort. “Und ich weiß nicht so recht, wie ich es Ihnen sagen soll.”
“Meiner Mutter ist etwas zugestoßen”, sagte sie sofort. “Ich habe schon den ganzen Tag so ein merkwürdiges Gefühl gehabt.”
Er schien nicht überrascht zu sein. “Sie hatten ja schon immer diese Vorahnungen, als Sie klein waren”, erinnerte er sich.
“Es ist mehr ein Fluch als ein Segen”, erwiderte sie. “Ist es etwas Schlimmes?”
“Ja. Sie hatte einen Herzanfall. Ich nehme an, Sie wissen nicht, dass sie seit einem Monat in der Rehaklinik ist”, erzählte er zu Tippys Überraschung. “Seitdem ist sie trocken. Es ist das erste Mal, dass ich sie so erlebe, seit ich sie kenne. Es geht ihr ziemlich schlecht, aber sie möchte Sie noch einmal sehen, bevor sie stirbt.”
Tippy war schockiert. “Sie liegt im Sterben?”, fragte sie.
“Ich glaube ja”, antwortete er.
“Sie war nicht gerade eine gute Mutter, selbst in nüchternem Zustand.”
“Sie ist immer noch Ihr Fleisch und Blut”, ermahnte er sie.
“Ja.” Sie zögerte, wenn auch nur ein paar Sekunden. “Ich bringe Rory mit nach Hause”, sagte sie dann gefasst.
“Ich weiß, was Ihnen in New York zugestoßen ist”, fuhr er fort. “Es ist nicht gut für Sie, alleine hierher zu kommen. Sie sollten jemanden mitbringen, der auf Sie aufpasst. Ich könnte Sie abholen und hinterher mit Ihnen beiden zurückfliegen.”
Sie musste lächeln. “Vielen Dank”, sagte sie, “aber ich denke, ich kann Cash überreden, uns zu begleiten.”
Es entstand eine Pause. “Cash Grier?”
Sie war verblüfft. “Sie kennen ihn?”
“Ich habe von ihm gehört”, schränkte er ein. “Vor einiger Zeit hat er hier angerufen und uns gebeten, Ihre Mutter zu verhören und sie im Auge zu behalten – für den Fall, dass die Entführer auftauchten, wenn sie gegen Kaution auf freien Fuß kommen. Sie wissen ja, dass sie wegen Mittäterschaft verhaftet wurde. Aber sie hat eine Kaution hinterlegt und ist sehr schnell wieder freigekommen. Vielleicht hatte sie Angst, wegen der Entführung gemeinsam mit Stanton ins Gefängnis zu müssen; vielleicht haben auch all die Jahre mit Alkohol und Drogen ihren Tribut gefordert. Wie dem auch sei, sie wird nicht mehr lange leben.”
“Ich rede mit Cash und melde mich wieder bei Ihnen. Wie ist Ihre Telefonnummer?”
Er gab sie ihr, und sie bedankte sich bei ihm, dass er ihr die Nachricht so schonend wie möglich beigebracht hatte. Als sie den Hörer aufgelegt hatte, vergrub sie das Gesicht in den Händen und brach in Tränen aus. Sie weinte um die Kindheit, die sie niemals gehabt hatte, und um die Mutter, die ihre Tochter weder gewollt noch geliebt hatte. Jetzt musste sie es noch Rory mitteilen. Aber sie
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