Wenn es Nacht wird in Manhattan
und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sie sah aus wie ein lebender Leichnam.
“Arbeitest du wieder?”, erkundigte er sich besorgt.
Sie nickte. “Nächste Woche sind wir fertig”, antwortete sie mit schleppender Stimme. “Joel hat ein Stunt-Double für mich engagiert. Leider ein bisschen spät.” Sie lachte rau. “Na ja, besser spät als nie.”
“Tippy, geht es dir gut?”, fragte er.
“Natürlich”, erwiderte sie betont heiter. “Wir werden eine tolle Zeit zusammen verbringen. Ich kann dir einen Kuchen backen mit einem lustigen Gesicht als Verzierung.”
“Ich bin ein bisschen zu alt für Kuchen mit lustigen Gesichtern”, wandte er ein.
“Unsinn. Wir werden eine Menge Spaß haben. Wir sind wie eine … eine richtige Familie.” Auf dem Weg zum Taxi schwankte sie ein wenig.
“Du hast getrunken”, sagte er vorwurfsvoll. Es überraschte ihn. “Du weißt, dass du nicht trinken solltest, Tippy. Schau dir unsere Mutter an.”
Seine Bemerkung verursachte ihr ein unbehagliches Gefühl, und sie versuchte, es mit einem Lachen zu überspielen.
“In unserer Familie gibt es einen Hang zum Alkoholismus”, sagte er ernst.
Wieder lachte sie, und diesmal klang es etwas hektisch. “Mein Gott, Rory, ich habe ein oder zwei Gläser getrunken, um mich ein wenig zu entspannen. Hör auf, mich zu belehren.” Sie umarmte ihn. “Mein lieber Junge. Ich bin so froh, dass du zu Hause bist.”
“Ich auch”, erwiderte er. Aber er lächelte nicht.
An diesem Abend erhielt Tippy einen Anruf. Rory nahm den Hörer ab, doch am anderen Ende wurde sofort aufgelegt. Tippys Gerät speicherte die Nummern der Anrufer, aber diese hier war gesperrt. Es könnte Cash gewesen sein, überlegte er hoffnungsvoll. Er hatte ihn nicht wieder anzurufen versucht, aber vielleicht hatte Cash über sie nachgedacht und beschlossen, sich nach ihnen zu erkundigen.
“Hast du inzwischen mal was von Cash gehört?”, fragte er unvermittelt.
Ihre Miene wurde abweisend. “Nein”, sagte sie zornig. “Und ich will auch nichts von ihm hören. Wenn ich ihm etwas bedeuten würde, dann hätte er schon längst etwas von sich hören lassen.”
“Du hast ihn nicht angerufen?”
Sie sah ihn wütend an. “Warum sollte ich? Er hasst mich.”
“Das weißt du doch gar nicht.”
“Und ob”, erwiderte sie mit Bestimmtheit. Sie goss etwas Whisky in ein Glas und schüttete ihn in einem Schluck hinunter. “Aber das ist mir sowieso egal.”
Natürlich machte es ihr etwas aus. Es brachte sie fast um. Rory versetzte es einen Stich, als er in ihr Gesicht sah und ihren ausgemergelten Körper betrachtete. Er wünschte, er wäre älter, dann wüsste er, was er tun könnte. Doch er war vollkommen ratlos.
Sie nahm sich einen weiteren Drink. In dem Moment klopfte es an die Tür.
Rory öffnete. Vor ihm stand sein Freund Don. Er wirkte etwas verwirrt. “Rory, wir sind gerade vom Einkaufen zurück. Unten steht ein Typ, der behauptet, dass er dich kennt. Er möchte, dass du runterkommst, um mit ihm zu reden.”
“Cash!”, rief Rory. “Ist es Cash?”
Sein Freund zuckte mit den Schultern. “Keine Ahnung. Ich habe den Freund deiner Schwester nur einmal gesehen. Der Mann hat einen Hut ins Gesicht gezogen, und er trägt einen langen Mantel …”
“Das muss Cash sein”, rief Rory aufgeregt. “Ich geh runter und rede mit ihm. Sag meiner Schwester aber nichts, hörst du?”, fügte er rasch hinzu.
“Wie du willst. Hast du Lust, morgen mit mir und Mom zur Rollschuhbahn zu kommen?”
“Mal sehen. Danke, Don.”
“Gern geschehen.”
An der Tür hielt Rory inne. “Ich geh mal für ein paar Minuten nach nebenan”, rief er Tippy zu. “Bin gleich zurück.”
“Okay. Ach, und wenn ihr noch woanders hingeht, sag mir bitte Bescheid”, rief sie ihm nach, als sie sich an die Drohung ihrer Mutter erinnerte.
“Ganz bestimmt.”
Er schloss die Tür und ging die Treppe hinunter.
Eine Stunde später wurde Tippy bewusst, dass die “paar Minuten” schon viel zu lange dauerten. Sie stellte das Whiskyglas ab und versuchte sich zu konzentrieren. Er hatte gesagt, er wollte nach nebenan zu Don gehen. Sie wählte die Nummer der Nachbarwohnung und sprach mit Dons Mutter.
“Aber er ist überhaupt nicht hier gewesen”, lautete die beunruhigende Antwort. “Hat er etwa gesagt, dass er zu uns wollte?”
Eine Faust krallte sich um Tippys Herz. “Ja.”
“Warten Sie mal.” Sie rief ihren Sohn, und Tippy hörte undeutlich, wie die beiden sich unterhielten.
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