Wenn es plötzlich Liebe ist
unter dem Callie gestanden haben musste.
»Ja, ein paar Jahre lang, aber die letzten vier Monate waren am schlimmsten. Sie hat jegliche Hilfe von meinem … unserem Vater abgelehnt.« Callies Blick zuckte unsicher hoch. »Er wollte sie in eine Privatklinik verlegen lassen, aber sie hat darauf bestanden, zu Hause zu bleiben, wahrscheinlich nur, um ihm die Stirn zu bieten. Sie war eine
sehr unabhängige Frau. Der Kontrollverlust durch die MS hat ihr sehr zu schaffen gemacht. Die letzten paar Monate waren die längsten in meinem Leben. Und in ihrem. Es war für uns beide eine traurige Erleichterung, als es endlich zu Ende war.«
Grace sah Callie an, die nun einen Teelöffel in die Hand nahm und begann, Muster auf die Tischdecke zu malen. Ein Abbild ihres Vaters tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Sie musste sich zwingen, nicht den Blick abzuwenden. Sie verfolgte die Spuren mit den Augen, hörte das leise Kratzen und fühlte sich schrecklich verlassen. Irgendwie aber auch erleichtert.
Zu Beginn ihres Treffens waren beide ziemlich verlegen gewesen, aber Grace war immer noch froh, dass sie Callie angerufen hatte. Die Schwester war clever, ehrlich, schien sehr offen und erweckte in keiner Weise den Eindruck, dass sie hinter ihrem Geld her war. Sie ließ allerdings erkennen, dass ihr Leben bisher ziemlich schwer gewesen war. Callie hatte nur angedeutet, was sie mitgemacht hatte, nicht nur mit der Krankheit ihrer Mutter, sondern auch mit der Einsamkeit, als Tochter nicht anerkannt zu sein.
Der Kaffee wurde gebracht. Grace spürte, dass Callie nicht weiter über ihre Mutter reden wollte. »Du interessierst dich also für die Restaurierung von Kunstwerken?«
»Ja, das ist meine Leidenschaft. Ich wünschte, ich würde einen solchen Job finden, statt in der Galerie nur den Telefondienst zu machen. Ich habe auf der Uni ziemlich gute Projekte betreut, aber in der heutigen Kunst ist das sehr schwer umzusetzen. Um einen Restauratorjob bewerben sich hunderte, und da meine Mutter krank war, konnte ich auch nicht wegziehen.« Sie zuckte die Achseln. »Vermutlich ist es Zeit, mich mal wieder zu bewerben. Ich bin
ja jetzt allein und kann im ganzen Land anfangen. Sogar in der ganzen Welt.«
»Wohin würdest du am liebsten gehen?«
Callie lachte und trank einen Schluck Kaffee. »Keine Ahnung. Ich habe immer gerne mehrere Möglichkeiten, und jetzt hab ich die Wahl und bin so überwältigt, dass ich am liebsten hierbleiben würde.«
Grace dachte an die Restaurierungsabteilung ihrer Stiftung. Irgendwie wollte sie Callie überhaupt nicht in der Nähe haben, denn die Familienähnlichkeit könnte jemandem auffallen. Sie starrte die Frau an. Die Ähnlichkeit mit ihrem Vater war nicht aufdringlich und würde vermutlich nur jemandem auffallen, der wusste, wonach er zu suchen hatte. Und wer würde auf die Idee kommen? Niemand hatte ja von Cornelius’ Doppelleben gewusst.
Grace zögerte, dachte aber auch, dass es sehr hässlich von ihr wäre, jemandem Hilfe zu verweigern, nur weil sie sich vor irgendwelchen irrealen Konsequenzen fürchtete.
»Callie«, sagte sie, »komm doch mal in die Stiftung und unterhalte dich mit Miles Forsythe. Das ist der Kurator unseres Museums. Er könnte dich auf ein paar Positionen aufmerksam machen. Zumindest könnte er dir ein paar Namen von Leuten nennen, die dir weiterhelfen könnten.«
Callie setzte langsam die Tasse ab. Sie sah verdutzt aus, als hätte sie niemals Hilfe von Grace erwartet. Noch von irgendjemand anderem.
»Dafür wäre ich dir sehr dankbar«, sagte sie.
Anschließend schlenderten sie zurück zur Galerie und verabschiedeten sich.
»Ich rede mit Miles und verschaffe dir einen Termin.«
»Danke.« Callie rückte die Handtasche höher auf die Schulter. »Es war nicht nötig, mich zum Essen einzuladen.«
»Ich weiß.«
Als Callie den Kopf nach einem hupenden Taxi umdrehte, fiel die Sonne auf ihr Gesicht und hob die hohen Wangenknochen hervor, um die Grace ihren Vater immer so beneidet hatte.
Callie sah sie wieder an. »Ich hätte deinen Hosenanzug mitgebracht, aber ich wusste nicht, dass du anrufen würdest …«
»Nicht nötig. Keine Eile.«
Callie lächelte. Sie stand da in ihrer bescheidenen Garderobe, in einem einfachen, abgetragenen Mantel und wirkte sehr verletzlich, aber eindeutig nicht wie jemand, der es auf etwas abgesehen hat.
»Werde ich dich sehen, wenn ich mich mit Mr. Forsyth treffe?«, fragte sie.
»Aber natürlich«, antwortete Grace.
23
A ls Grace am nächsten
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