Wenn es plötzlich Liebe ist
Callie ihn interessiert, aber auch sehr misstrauisch ansah.
»Wenn Sie sich in Kunstdingen auskennen, müssen Sie unbedingt Nathaniel kennen lernen«, sagte er lakonisch.
»Nathaniel?«
Grace erklärte: »Das ist John Singleton Copleys Porträt von Nathaniel Walker. Warum kommst du nicht mit, wenn wir es ansehen? Es dauert nicht lange, und ich bin an deiner Meinung sehr interessiert.«
Callies Blick zuckte zu Jack hoch. Dann nickte sie und folgte den beiden in die Restaurierungswerkstatt.
Grace besuchte die Werkstatt sehr gerne, um bei der Arbeit zuzusehen. Es roch nach Farbe und Lack. Im Hintergrund spielte stets klassische Musik. Überall in dem großen Raum standen Gemälde in den verschiedenen Stadien der Restaurierung, gestützt von großen Holzblöcken. Neben jedem stand ein Rollwagen mit den Materialien: Gläser mit dunklen chemischen Lösungen, Pinsel und Gazetupfer.
Die Angestellten waren schon gegangen, aber Grace wusste, wo sich der Copley befand.
»Da drüben im Schrank«, sagte sie und trat zu einer Kommode mit breiten, tiefen Schubladen. Mit dem mitgebrachten Schlüssel schloss sie eine Lade auf und rollte ein Tuch ab. Als Jack seinen Vorfahren sah, stieß er einen zufriedenen Seufzer aus.
»Holen wir ihn heraus«, meinte Grace. Sie versuchte, das Gemälde herauszuziehen, aber mit dem massiven vergoldeten Rahmen war es für sie zu schwer. Da hob Smith es vorsichtig heraus und legte es flach auf einen der Arbeitstische.
»Es ist sehr schön«, murmelte Callie.
»Aber eher von der schwermütigen Art«, meinte Jack, beugte sich vor und starrte das Gesicht auf der Leinwand an.
»Seine Augen sind sehr ungewöhnlich«, murmelte Callie. »Sehr expressiv. Schade nur, dass er ein so ernster Mann war.«
Jack sah sie über das Gemälde hinweg lange an. »Ja, das stimmt.«
Da trat Grace vor und deutete auf die linke untere Ecke. »Hier ist die Signatur und das Datum. Es war ungefähr um die Zeit, als Copley das Porträt von Paul Revere malte, das in Boston hängt.«
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich es mir genauer ansehe?«, fragte Callie.
»Nein, natürlich nicht.«
Callie schaltete eine verstellbare Lampe über dem Arbeitstisch an und richtete sie auf das Gemälde. Dann beugte sie sich im Abstand von etwa zehn Zentimetern darüber und betrachtete es langsam von der Mitte her zu den Rändern. Dabei näherte sie sich Jack, der aber nicht auswich.
Als sie sich wieder aufrichtete, umspielte ein leises Lächeln ihre Lippen.
»Was meinen Sie?«, fragte Jack.
»Er braucht ein bisschen Pflege. Auf dem Firnis sitzen vermutlich fünfundsiebzig Jahre Rauch und Schmutz, der mit den Jahren vergilbt ist. Man muss ihn sehr vorsichtig und mit viel Liebe behandeln, aber die Leinwand ist intakt.«
»Vielleicht wollen Sie diese Aufgabe übernehmen?«
Callie blickte überrascht hoch. »Wie bitte?«
Grace versuchte, die darauffolgende peinliche Pause zu überspielen, indem sie leise lachte. »Du wirst ihn erst kaufen müssen, Jack, ehe du jemanden beauftragst, ihn zu reinigen.«
»Egal, was er kostet, er wird in den Schoß der Familie zurückkehren.« Damit wandte er sich an Callie. »Sind Sie an dem Projekt interessiert?«
Sie zögerte lange, ehe sie antwortete. »Dieses Gemälde
ist historisch gesehen sehr bedeutsam, sowohl aufgrund des Künstlers als auch des Motivs.«
Jack zuckte die Achseln. »Soll das heißen, dass Sie nicht daran interessiert sind?«
»Es ist eine größere Aufgabe, als ich bisher bewältigt habe.«
»Und wenn Sie das richtig hinbekommen, ist Ihre Karriere gesichert.«
»Und wenn ich es nicht richtig hinbekomme, sind sowohl das Gemälde als auch mein Ruf dahin.«
Grace blickte zwischen den beiden hin und her. Callie starrte auf den Nathaniel Walker. Jack starrte Callie an.
Sie fragte sich, was in ihm vorging, und kam zu dem Schluss, dass er bei Callie einfach eine Gelegenheit sah, ihr den Steigbügel für den Aufstieg ganz nach oben zu halten.
Smith hatte sich gerade einen Zigarillo angesteckt und sich in seinem Zimmer gegen das Kopfende des Bettes gelehnt, da klingelte sein Handy. »Yeah?«
»He«, rief Tiny. Die Verbindung war sehr schwach und knackte.
»Sag mir, dass du irgendwo über New Jersey schwebst.«
»Nein, nicht mal annähernd.Wir haben Verspätung wegen einer Bombendrohung. Dann wurden wir wegen schlechten Wetters umgeleitet. Ich werde erst morgen Vormittag wieder in New York sein.Wo soll ich dich treffen?«
Smith fluchte und gab ihm die Adresse der
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