Wenn es plötzlich Liebe ist
Möglichkeiten aufzeigen konnte statt bloß Hindernisse.
Seine Vergangenheit war ein großer Stolperstein. Sie bezweifelte nicht, dass er mächtige Feinde hatte, aber sie wollte einfach glauben, dass es auch für dieses Hindernis eine Lösung gab.
»Grace?«, sagte die Mutter mit scharfer Stimme.
Grace riss sich von diesen Gedanken los und blickte zum Tischende. Ihre Mutter hatte die Serviette zu einem ordentlichen Quadrat gefaltet und neben den Teller gelegt. Sie erhob sich gerade. Offensichtlich war das Frühstück vorbei.
»Ja bitte?«
»Ich möchte dich einen Moment sprechen.«
Grace griff nach einer Scheibe Toast und folgte der Mutter zögernd durch die Halle in den kleinen Salon, in dem Carolina ihre Korrespondenz erledigte.
Der Raum war kornblumenblau gehalten und enthielt sehr feine französische Antiquitäten. Grace hatte sich hier nie wohl gefühlt. Hier war alles klein, zierlich und zerbrechlich. Für sie war es wie ein vermintes Feld. Es war, als wäre jeder Stuhl für das Federgewicht ihrer zierlichen Mutter angefertigt worden und würde sofort unter ihr zusammenbrechen,
was Peinlichkeit und scharfe Kritik nach sich ziehen würde.
Als Carolina die Doppeltür hinter ihnen schloss, schnürte es Grace die Kehle zu. Es war schwer zu begreifen, wie ein so freundlicher, eleganter Raum sich wie ein Kerker anfühlen konnte, aber genau so war es für sie.
»Schön, dass es Blair gut zu gehen scheint«, sagte Carolina. Sie war stehen geblieben, um ein Blumenbukett auf einem zierlichen Tischchen zu begutachten. Sie zupfte zwei Blütenblätter von einer weißen Rose und warf sie in den ansonsten leeren kleinen Decoupé-Papierkorb. »Obwohl die Geschichte mit dem Zahn schrecklich schmerzhaft klang.«
»Ja.«
»Sie sieht süß aus, findest du nicht?«
»Ja.«
Grace wusste genau, dass sie nicht herbeizitiert worden war, um über Jacks Freundin zu diskutieren, und wartete auf den wahren Grund der Unterhaltung.
Dann trat Carolina zu ihrem Schreibtisch, einem Louis-XVI-Meisterwerk, dessen makellose Oberfläche nur wenige Spuren aufwies. In einer Ecke stand eine Seidenschachtel mit ihrem persönlichen Briefpapier, auf das in der oberen rechten Ecke ihr Name und die Willig-Addresse gedruckt waren.Auf dem Stapel mit den Briefbogen lag ein goldener Kugelschreiber, so dünn wie ein Blumenstengel, und ein kleines ledergebundenes Adressbuch.
»Setz dich, Grace.«
Grace setzte sich vorsichtig auf den Stuhl neben dem Schreibtisch der Mutter. Die Sonne fiel ihr durch ein Ostfenster direkt in die Augen, so dass sie kaum sehen konnte. Sie zwinkerte.
»Ich bin überrascht, dass du dein Haar so trägst. Das wirkt ein wenig aufsässig, nicht wahr?«
Darauf folgte eine lange Pause.
»Mutter, worüber möchtest du mit mir reden?«
Carolina kreuzte die Beine an den Knöcheln und glättetete den makellosen Rock sehr sorgfältig. »Ich fürchte, du hast mich in eine sehr peinliche Situation gebracht.«
»Ja?«
»Ich habe dich heute Morgen gesehen. Mit diesem Mann.«
Grace spürte, wie sich alles in ihr zusammenzog. »Welchem Mann?«
»Du weißt genau, wen ich meine.«
»Ja, und?«
»Du hast mit ihm gestritten. Auf dem Rasen. Ich habe dich von meinem Schlafzimmerfenster aus gesehen.«
Ihr Tonfall deutete an, dass sie lieber einen verrottenden Kadaver auf dem Rasen gesehen hätte.
Grace kämpfte gegen das Bedürfnis an, auf ihre Hände zu starren, denn so hatte sie als junges Mädchen immer reagiert, wenn sie solcher Kritik ausgesetzt war. Sie sagte sich, sie sei jetzt erwachsen, und versuchte, dem Blick der Mutter nicht auszuweichen. Ihre Augen schmerzten in dem direkten Sonnenlicht, der Rücken tat auf dem unbequemen Stühlchen weh, und da hatte sie plötzlich die deutliche Vision, auch mit fünfzig noch die gehorsame Tochter zu spielen. Dabei krampfte sich ihr Magen zusammen.
»Ja?«, sagte sie leise und fragend.
»Grace, Damen streiten sich nicht so. Und ganz sicher nicht in aller Öffentlichkeit.« Dann folgte eine bedeutsame Pause. »Und erst recht nicht mit einem Mann, mit dem sie nicht verheiratet sind.«
Grace rückte auf dem Stuhl hin und her. Er wackelte, weil er spürte, dass sie nun wirklich genug hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben kam Grace der Gedanke, dass sie die Missbilligung ihrer Mutter nicht einfach hinzunehmen brauchte.
Das war eine sehr machtvolle Erkenntnis.
Sie wusste nur noch nicht genau, wie sie sie in die Tat umsetzen konnte.
»Nun?«, fragte Carolina. »Was hast du dazu zu
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