wenn es Zeit ist
Orangensaft, salze etwas, bestreiche sie mit Honig, währ end Mama das Hackfleisch zu Frikadellen formt. Wortlos decke ich den Tisch. Mama streicht mir ein paar Mal über den Kopf, wenn ich an ihr vorbei gehe. Es ist als sind Wolken in unser Reich des Friedens gedrungen. Und die Oma, die sie einst fortpusten konnte, ist zerstört.
Bevor wir essen, gehe ich in mein Zimmer, nehme das Kästchen in die Hand. Ist es jetzt so weit? Nie war ich weniger neugierig auf den Inhalt. Und doch ist mir, als müsste ich es jetzt öffnen. Vielleicht würde daraus ihr Atem wehen und die Wolken vertreiben?
Ich habe Angst. Das Kästchen brennt in meiner Handfläche, so sehr, dass ich den Schreibtisch öffne und es ganz tief nach hinten in das unterste Regal stelle , versteckt hinter losen Papierblättern und alten Schulheften der vergangenen Jahre.
Nein, es ist noch nicht so weit. Ich will es nicht.
»Kommst du?«, ruft Mama aus dem Wohnflur. Sie hat das Essen auf den Tisch gestellt. Immer noch schweigend setze ich mich, fülle meinen Teller und esse ein bisschen. Es schmeckt nach nichts. Ich habe Hunger , aber keinen Appetit.
»Ist die Flechte nicht viel eher durch die Tinktur verschwunden?«
Mama schluckt erst ihren Bissen herunter, bevor sie antwortet: »Nein. Es war eine Tinktur aus Arnika. Das kann man für Prellungen und Blutergüsse nehmen. Man hat früher auch Herzkrankheiten damit behandelt. Das macht man heute nicht mehr, weil es so giftig ist. Bei Flechten ist Arnika aber wirkungslos.«
»Michi behauptet, ich würde Knochenbrüche mit meinem Atem heilen können«, sage ich. » Das ist doch selbst dann unmöglich, wenn ich an Omas Gabe glaube, Flechten und Warzen zu besprechen. Knochen wachsen doch nicht zusammen, nur weil ich puste.«
Vom empfindlichen Frieden (1974)
Die Ruhe in unserem Reich des Friedens war immer von Angst begleitet. Wir wollten aufatmen, pusteten durch, und es gab stille und schöne Momente. Wir hatten Glück gehabt, das mit Menschen verbunden war. Mit Herrn Blatz, mit Michi und ihren Eltern, Menschen, die das Elend meiner Mutter gesehen und ihr selbstlos unter die Arme gegriffen hatten.
Wenn ich es heute betrachte, scheint mir all dieses Glück nahezu unfassbar unwahrscheinlich, so seltsam, als hätte ich es erdacht. Aber vielleicht muss man nur eine richtige Entscheidung treffen, damit das Schicksal einem den Weg ebnet?
Mama eröffnete ein Konto bei der Sparkasse und richtete einen Dauerauftrag mit einem geringen Betrag ein, den sie Herrn Blatz monatlich überwies.
Das war der Frieden. Doch in uns standen die Panzer bereit, die Grenze zu verteidigen. Am meisten Angst hatte ich vor Polizeiwagen. Immer, wenn ich einen sah, drehte ich mich weg, sah unauffällig in eines der Schaufenster der Fuhlsbütteler Straße oder tat so, als wühlte ich gerade den Haustürschlüssel aus der Hosentasche, während ich auf einen Eingang zusteuerte.
Ich fürchtete, sie würden mich verhaften, weil ich einem Jungen den Arm gebrochen Papa eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatte. Die Polizei suchte mich. Das war mir klar. Ich war ein Verbrecher, flüchtig vor der Justiz und vor dem Vater. Polizisten durften mich nur von hinten sehen. Bei lauten Rufen auf der Straße fuhr ich zusammen. Immer drehte ich mich um. Und als Mama zur Behörde wollte, um den Wohnsitz anzumelden, versuchte ich, es ihr auszureden.
»Wenn du das tust, finden sie uns, Mama. Dann steht die Polizei vor der Tür und bringt uns zu Papa zurück.«
Meine Mutter strich mir über den Kopf. »Wir sind keine Verbrecher«, sagte sie, »sondern dein Vater ist einer. Vielleicht stehen sie vor der Tür, aber sie werden uns nicht zu ihm zurückzwingen.« Woher nahm sie diese Zuversicht? Sie zuckte doch auch zusammen, wenn sie die Haustür unten hörte.
Obwohl ich die Angst davor immer mit mir trug, kam es völlig unerwartet, als ich meinen Vater wiedersah. Mama arbeitete schon ein paar Monate, Michi hielt trotz meiner Wutanfälle mit unerschütterlicher Treue an mir fest, unser Hausstand hatte sich mittlerweile auch etwas vergrößert. Es war mehr Geschirr und vor allem ein Aschenbecher hinzugekommen, den ich damals noch nicht nutzte. Nach und nach hatte Mama mal Handtücher gekauft, mal Bettzeug oder Bezüge. Meistens hat sie solche Anschaffungen mit mir abgesprochen. Der Lohn war nicht hoch genug, um zwei Steppdecken auf einmal kaufen zu können. Also schlief ich noch eine Weile im Schlafsack, bis wir uns eine Zweite leisteten. Mir war das
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