wenn es Zeit ist
Hause führte daran vorbei. Ich musste den Bus abwarten, damit Papa mich nicht sehen konnte. Von dort, wo er stand, hatte er den ganzen Fußgängerweg im Blick.
»Wo bleibst du?« Michi war weiter gegangen, drehte sich nach mir um und kam zu mir zurück. »Du hast richtig Schiss.«
Ich nickte. »Er soll mich nicht sehen. Es soll nie wieder so werden, wie es einmal war.«
»In Ordnung«, sagte sie. »Du hast mich beschützt. Also beschütze ich jetzt dich.« Sie stellte sich vor mich Ihre dicke schwarze Motorradjacke schirmte mich gut ab und ich glotzte meinen Vater an, bis er in den Bus stieg, ohne zu bezahlen.
»Also doch Kakao.« Michi lachte, zog mich wie einen kleinen Jungen an der Hand aus dem Eingang. Ich zog sie zurück, wartete, bis der Bus weit genug fort war, erst dann traute ich mich wieder auf den Bürgersteig.
Mama habe ich nichts davon erzählt.
Von Albträumen, Asthma und Atem (1976)
Besen und Scheiterhaufen, eine brennende Strohpuppe, Kinderfinger, die auf mich zeigen, Kindermünder, die singen: »Sechs, sechs, sechs. Da kommt die alte Hex!«
Jungen, die mich verfolgen, während Kranke und Gebrechliche hinter mir herlaufen und um Hilfe flehen. Mädchen, die spotten: »Wir betteln und flehen, lass Wunder geschehen«, und dabei lachen. Menschen, die mich umringen und Blitzlichter, als ich mich umdrehe und einen Jungen würge, während ich ihm in den Magen schlage, auf sein Gesicht einprügle und ihm die Arme breche. Wie viele Arme habe ich eigentlich?
Meine Oma schiebt die schwere Steinplatte beiseite, kriecht, wie Graf Dracula aus ihrem Grab und ruft: »Öffne das Kästchen!«, doch ich drehe mich nur zu ihr, kein Junge mehr, nur ein Häuflein Elend in dünnem abgewetzten Kleid, und brülle: »Weib, meine Stunde ist noch nicht gekommen!«
Die Kinder haben einen Kreis um mich gebildet, stehen eng beieinander und fassen sich an den Händen. Eines läuft außen um sie herum, das Kästchen der Großmutter in den Händen. »Die Hexe geht um, die Hexe geht um, wer sich umdreht oder lacht, wird umgebracht«, singen sie und ich schreie: »Nicht umgebracht, geheilt«!
Aus dem brennenden Scheiterhaufen steigen Farben, die sich über die Kinder legen, sie einhüllen wie Nieselregen. Die Strohpuppe hat sich ihrer Fesseln entledigt und zeigt mir ihre Wunden, setzt sich zu mir auf den Schoß . Papa schlägt mir die Faust ins Gesicht. »Bist du pervers, Henrik?« Und er schlägt weiter, immer weiter, bis die Farben aus mir herauslaufen und ich brülle, als wäre ich vom Teufel besessen.
Nachdem ich gepinkelt habe, setze ich mich mit einem Glas Wasser in den Wohnflur. Ich muss eine rauchen. Sonst träume ich die Fortsetzung meines Horrors, wenn ich wieder einschlafe. Ruhig sitze ich in der Dunkelheit und verfolge den Qualm. Was wäre so schlimm daran, Menschen helfen zu können oder ihnen Hoffnung zu sein? Mal abgesehen davon, wie unrealistisch es ist?
Ohne Antwort gehe ich wieder ins Bett, falle in einen leichten aber traumlosen Schlaf.
Am nächsten Morgen habe ich Bauchschmerzen, greife mir instinktiv an die Stirn. Vielleicht habe ich ja Fieber und muss nicht zur Schule? Weder ein glühender Kopf noch brennende Augen, nur der Druck auf den Magen und die taumelnde Schläfrigkeit jedes Morgens.
Frühstück kann ich nicht zu mir nehmen. Anstatt Kaffee trinke ich lieber Tee. Vielleicht macht Mama sich ja Sorgen und sagt, ich solle zuhause bleiben.
»Hast du heute Nacht geraucht?«, fragt sie mitleidslos, während sie sich einen Toast mit Butter bestreicht.
»Ich hatte einen Albtraum.«
Man sagt, nichts sei so alt wie die Zeitung von gestern. Aber Gymnasiasten holen sich nicht morgens vor der Schule die neue Zeitung vom Kiosk. Sie sind viel eher damit beschäftigt, zu klären, bei wem sie unerledigte Hausaufgaben abschreiben können. Noch haben sie die Schlagzeilen von gestern im Kopf.
In den Nachwehen von Woodstock, Anti-Schah-Demonstrationen, Studentenrevolten jedoch lesen sie nicht das Blatt mit den dicken roten Buchstaben. Und wenn sie es lesen, dann stehen sie in der Schule nicht dazu.
Ich habe mich viel zu wichtig genommen. Vielleicht ist es auch der Lohn meiner jahrelangen Unauffälligkeit. Jedenfalls umringen sie mich nicht, klopfen keine blöden Sprüche, sondern lassen mich in Ruhe.
Manchmal habe ich das Gefühl, einige Jüngere tuscheln, wenn ich an ihnen vorbei gehe, drehen den Kopf unauffällig und bemühen sich, nicht zu deutlich mit den Fingern auf mich zu zeigen. Aus
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