wenn es Zeit ist
meinem Jahrgang aber kommt wie gewohnt nur Jan auf mich zu, begrüßt mich und schweigt.
Wir verbringen die St unden und Pausen nebeneinander, ohne viel zu reden. Er scheint die Blicke und das Flüstern nicht zu bemerken, die Lehrer ziehen ganz normal ihren Unterricht durch, der in diesen ersten Tagen nach den Ferien zumeist darin besteht, uns das geplante Pensum für das Schuljahr vorzustellen.
Es sind Klassensprecherwahlen, aus denen ich mich wie üblich heraushalte.
Der Tag beruhigt mich in seinem routinierten Verlauf. Ich hatte mich von Michi anstecken lassen und die Macht der Zeitungen überschätzt. Das Schweigen zwischen Jan und mir ist so normal, dass mir erst, als er mich anspricht, auffällt, wie viele Versuche er schon unternommen haben muss, es zu überwinden. Den leichten Grauschleier in Jans Blau sehe ich erst, als er mich zaghaft antippt: »Darf ich dich etwas fragen?«
Wir verbringen den Schultag miteinander und er druckst damit herum, mich etwas fragen zu wollen? Michi hätte damit nie Probleme gehabt. Die Ernsthaftigkeit in seinem Gesicht macht mir Sorgen, ich rutsche unwillkürlich ein kleines Stück von ihm weg. ›Er will wissen, ob ich in ihn verschossen bin‹, schießt es mir durch den Kopf. So weit fort ist dieser blöde Zeitungsartikel schon. ›Vielleicht ist er ja auch in mich verknallt? Vielleicht trauert er der Gelegenheit hinterher, mich mit Sonnencreme einzureiben und möchte das schöne Wetter nutzen, heute nach der Schule mit mir schwimmen zu gehen?‹
Jan wartet meine Antwort nicht ab. Er holt nur tief Luft. Das machen viele. Wenn ihnen etwas schon schwer auf der Seele drückt, holen sie tief Luft. Vielleicht müssen sie einfach den Druck erhöhen, bevor sie ihn los werden können?
» Dirk geht es nicht gut. Könntest du uns nicht mal besuchen und versuchen, ihm zu helfen?« Wie eine Erleichterung strömt schon die Frage aus ihm heraus, doch über die Augen, die mich gebannt und erwartungsvoll ansehen, scheint er den Druck wieder aufzunehmen. Er atmet nicht, seine Unterlippe zittert ganz leicht und in dem Blau schwirren kleine schwarze Punkte.
»Wer ist Dirk?«
»Mein kleiner Bruder.«
Hat Jan mir je von ih m erzählt oder ist er bisher, wie so vieles, einfach in unserer Sprachlosigkeit untergegangen?
»Er hat Asthma. Letzte Nacht mussten wir wieder den Notarzt rufen. Er wäre uns beinahe erstickt.«
Seit vier Jahren gehen wir in eine Klasse, doch ich weiß nicht einmal, dass er einen Bruder hat. Und jetzt schaut er mich gebannt an, hängt an meinen Lippen, wartet, wann ich endlich etwas sage.
»Ja.«
Sofort senkt sich Jans Brustkorb, er atmet wieder. »Danke«, sagt er und legt mir die Hand ganz kurz auf das Bein.
»Du hast gestern Zeitung gelesen, stimmt`s?«
»Ja. Ich wollte dich schon heute Nacht anrufen, aber ich habe mich nicht getraut.«
Ich schaue ihn an. Das Blau ist wieder klarer. So hoffnungsvoll, wie er aussieht, mag ich ihm nicht sagen, was ich von dem Bericht halte. Was sieht er in mir? Dass Michi diesen Schwachsinn glaubt, daran habe ich mich gewöhnt, das kann ich sogar nachvollziehen. Sie ist schließlich davon überzeugt, ihre wäre Nase gebrochen gewesen. Aber bei Jan kann es nur die Verzweiflung sein, die nach jedem Strohhalm sucht.
So viel Vertrauen macht mich wehmütig. Jans glänzende Augen rühren mich. Ich fühle mich ihm so nah, wie ich mich Jörg gefühlt habe an jenem einen Tag im Freibad. Und diese Nähe schwemmt mich mit Sehnsucht, die ich nicht beherrschen kann. Zum Glück läutet es, wir müssen in die Klasse zurück und ich kann die Nähe beenden, bevor Jan den feuchten Schimmer in meinen Augen sieht.
»Soll ich nach der Schule gleich mitkommen?«, frage ich , während wir durch das Schulgebäude gehen.
»Das wäre stark.«
Jan wohnt am Rübenkamp gegenüber dem Kindertagesheim, das dort in einem für Hamburg sehr untypischen Holzhaus untergebracht ist.
»Sag meiner Mutter nichts davon«, bittet er mich. »Sie hält es für Hexerei, für Sünde. Vielleicht ist es das auch ?«
» Liest sie keine Zeitung?«
Er klingelt unten an der Haustür, bevor er sie aufschließt. Seine Mutter trägt ein hellblaues Kleid mit großen Blumenmotiven. Ihr Haar ist kastanienbraun und dauergewellt. Sie sieht aus wie die Frauen, die auf Modemagazinen abgebildet werden, so schön lächelt sie.
»Mama, das ist Henrik.«
Von ihr hat Jan sein Blau nicht. Sie ist braun, fast bronzefarben, obwohl sie ähnlich blass aussieht wie ich.
»Kommt
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