wenn es Zeit ist
rein!«, fordert Jans Mutter uns auf und reicht mir die Hand als wäre ich erwachsen. »Schön, dich kennenzulernen, Henrik.« Sie schaut mich kaum an und ich frage mich, ob Jan zu Hause jemals von mir erzählt hat.
Ich folge seinem Beispiel, ziehe mir die Schuhe aus und stelle sie vor der Wohnungstür auf die Fußmatte. Meinen Ranzen lege ich auf den Boden einer Garderobe aus Teakholz. Alles ist hier Ton in Ton eingerichtet. Die Möbel heben sich dunkel von einer zart gemusterten Tapete ab, der Teppich ist schwach orangefarben. An den Wänden hängen Hamburgensien aus Kupfer, das Bismarckdenkmal, der Michel, das Hauptgebäude der Landungsbrücken.
»Wascht euch die Hände« , fordert Jans Mutter uns auf. »Das Essen ist fertig. Ich hoffe, du magst Gulasch.«
Ich nicke. »Vielen Dank.«
Jan zeigt mir, wo sich das Bad befindet und ich habe ein schlechtes Gewissen, die Hände gemeinsam mit ihm unter das fließende Wasser zu halten. Schnell nimmt er einen trockenen Lappen und wischt die Spritzer fort, bevor wir in die Küche gehen.
Hier ist es etwas heller. Die Möbel sind aus Furnier in heller Eiche mit Zierleisten. Rustikales Landhausdesign. Die Arbeitsplatten sind grünschwarz marmoriert, die Griffe aus Messing an Schränken und Schubladen glänzen, als benutzte sie niemand. Auch, wenn es hervorragend riecht, der Duft von geschmortem Fleisch und Paprika mir Appetit macht und die Mutter am Herd steht, es sieht nicht so aus, als ob gerade gekocht würde. Kein schmutziger Topf, kein Fleck auf den Arbeitsplatten, nirgends die Reste geputzten Gemüses.
Aus einem Transistorradio erklingt die Stimme eines Reporters, Jans Mutter rührt gerade Butter unter die Nudeln, Jan setzt sich an den Tisch und legt die Hände ruhig und ordentlich neben das Besteck. Der andere Junge, der dort sitzt, muss Dirk sein. Auch er hat die Hände auf dem Tisch liegen. Er hat einen Schlafanzug aus Frottee an und einen Morgenmantel darüber.
»Dirk, das ist Henrik.«
Der Junge ist grau, so schmerzlich grau wie die Wolke, die sich zu mir unter die Dusche stellte, als Jörgs Leichnam aus der Alster gezogen wurde. Dirk steht auf, geht um den Tisch und reicht mir die Hand. Es fehlt nur noch die Verbeugung.
»Hallo«, sage ich. »Geht es dir wieder besser?«
»Ja. Danke der Nachfrage.« Auch, wenn ich Dirk auf höchstens vierzehn schätze, er klingt als sei er schon erwachsen.
Die Mutter der beiden füllt jedem etwas auf den Teller. Dirks Widerspruch, es sei zu viel, lässt sie nicht gelten. Nach einem Tischgebet essen wir schweigsam. Nur das Besteck, das auf den Tellern klappert, ist zu hören.
Anscheinend müssen die beiden weder das Geschirr wegräumen noch beim Abwaschen helfen. Ihre Mutter bleibt allein in der Küche zurück, während wir in Dirks Zimmer gehen.
» Henrik ist deinetwegen hier«, erklärt Jan leise. »Mich hat er ja in den ganzen Jahren noch nicht einmal besucht.«
Dirk zieht den Morgenmantel aus und legt sich ins Bett.
»Jan sagt, du könntest mir helfen.« Er flüstert fast und schaut unruhig zu seiner Zimmertür.
»Er scheint davon überzeugter zu sein als ich.«
Der Raum ist im Vergleich zum Flur hell. An den Wänden sind weiße Einbauschränke mit orangefarbenen Türen montiert. In einem der Regale steht eine Kompaktanlage mit Plattenspieler, Kassettenrekorder und Radio. Daneben sind einige Langspielplatten. Nirgends in diesem Zimmer liegt etwas herum, keine Kleidung vom Vortag, keine Schulhefte, kein Schokoladenpapier. Nichts deutet auf Leben hin, außer dem ungemachten Bett, in dem Dirk liegt.
Unter seinem grauen Nieselregen ist er blasser als seine Mutter oder ich. Die Augen sind von dicken Rändern gezeichnet. Das Grau ist von der Brust bis zum Gesicht von einem dunkleren Braun überlagert.
Wir stehen hilflos im Zimmer. Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll. Sie stecken Hoffnung in mich. Laut Michi liegt die Kraft in meinem Atem. Bisher soll ich so Knochenbrüche repariert haben, auch, wenn ich es nicht wusste und immer noch nicht glaube. Dirk hat Asthma, seine Atemwege sind entzündet. Wo muss ich pusten, wenn ich ihm helfen will? Reicht die Brust oder muss ich ihm in den Mund atmen? Was denkt er von mir, wenn ich meine Lippen auf seine setze?
»Muss ich irgendetwas tun?«, fragt Dirk.
Ich zucke die Schultern. »Versprechen kann ich dir nichts. Ich halte den Zeitungsartikel für Blödsinn. Ich weiß selbst nicht, was ich tun muss, aber es könnte dir etwas komisch vorkommen.«
Jan gibt nicht auf. »Es
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