wenn es Zeit ist
Fußmatte.
Michi stand hinter mir. Sie war in der Lage, meiner Mutter »viel Glück« hinterherzurufen. Glück wobei auch immer.
Wie eine Maschine trocknete ich das letzte Geschirr ab und stellte es in den Schrank. An Michi sah ich vorbei, als wäre sie gar nicht da, obwohl ich froh war, sie bei mir zu wissen. Meine Arme und Beine fühlten sich taub an. In mir kreisten Gedanken, die ich nicht zu fassen bekam, an keinem konnte ich mich festhalten. Was war mit meinem Vater? Was hatte meine Mutter damit zu tun. Wir wussten nicht einmal, ob er immer noch im Gartenhaus lebte. Seit unserer Flucht mit dem Linienbus hatten wir nichts mehr von ihm gehört. Nur gesehen hatte ich ihn das eine Mal vor etwa einem halben Jahr.
»Soll ich bei dir bleiben?«, fragte Michi. Ich sah sie eine Hand an meinen Oberarm legen, aber ich spürte die Berührung nicht. »Ich kann zu Hause anrufen. Bestimmt verstehen meine Eltern es.«
»Du hast keine Schulsachen dabei.«
»Na und? Notfalls gehe ich morgen nicht zur Schule. Dafür schreiben meine Eltern mir bestimmt eine Entschuldigung.«
Ich sah auf die Uhr. Es war kurz vor sieben. »Mal sehen, wann meine Mama wieder kommt. Wenn sie um neun noch nicht zurück ist, wäre ich dir dankbar, wenn du anrufst.«
»In Ordnung. Es ist ja noch früh. Vielleicht wissen wir später mehr. Dann kann ich deine M utter auch gleich für morgen bei der Arbeit entschuldigen.«
Ich hörte ihre Worte, ich verstand sie, aber ich spürte ihre Hände nicht, als sie mich in den Wohnflur schob und mich auf einen der Sessel setzte. Ich folgte einfach.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte Michi, ging zurück in die Küche und an dem Geräusch von Wasser, das sie in den Kessel füllte, merkte ich, sie kochte Tee. Sie kam mit zwei Bechern zurück und holte den Kasten Scrabble aus einem Regal. »Lass uns spielen. Das lenkt dich ab.«
Die ersten Runden waren katastrophal. Ich bekam kein einziges Wort zustande, zu viele davon kreisten in meinem Kopf. Aber mit der Zeit wurde es besser.
»Hat sich deine Mutter nie scheiden lassen? «
»Das weißt du doch.«
»Warum?«
»Wir haben Papa verlassen. Hätte sie sich scheiden lassen, hätte sie eventuell Unterhalt für ihn zahlen müssen. Auf alle Fälle hätte er erfahren, wo wir wohnen. Zum Glück scheint er nie nach uns gesucht zu haben.«
Michi legte konzentriert ein Wort auf das Spielbrett, fischte neue Buchstaben aus dem blauen Plastiksäckchen und entrüstete sich erst dann: »Sie hätte Unterhalt zahlen müssen?«
»Sie hat ihn verlassen, also trägt sie die Schuld an der Trennung. Wer schuldig ist, zahlt. So einfach ist das.«
»Er hat sie geschlagen, er hat dich geschlagen.«
Michi hatte ein P stehen lassen, ich hatte ein R, ein Ü, ein G, ein E und ein L. Alles legte ich, erreichte sogar einen dreifachen Wortwert.
»Es gibt kein Gesetz, welches es Ehemännern verbietet, ihre Frauen oder Kinder zu schlagen.«
Es lenkte tatsächlich ab, zu spielen. Manchmal konnte ich auf der Suche nach Wörtern die grübelnd springenden Gedanken unterdrücken. Aber sowie Michi eine Frage stellte, sowie mich ein Wort an die Situation erinnerte, waren sie wieder da, hämmerten vom Schädel aus in die Brust und ließen mir keine Ruhe.
Es wurde später, wir verloren immer mehr den Spaß am Spiel, wenn wir ihn je gehabt hatten. Aber wir hörten nicht auf. Wir suchten uns auch keine Abwechslung. Runde um Runde legten wir Wort für Wort, zählten die Werte der Buchstaben, ohne sie auf einen Zettel zu schreiben. So gab es keinen Sieger und keinen Verlierer, auch, wenn Michi sicher mehr Punkte hatte als ich.
Kurz vor neun kam Mama. Wir warteten nicht ab, bis sie oben war. Schon als wir die Haustür unten hörten, die müden Schritte, die im Anschluss die Treppe hochkamen, liefen wir zur Wohnungstür. Wäre es irgendein Nachbar gewesen, hätte er sich bestimmt gewundert. Doch Mama war froh, uns zu sehen , setzte sich in ihrem Mantel auf einen der beiden Sessel, zündete sich eine Zigarette an und blieb stumm.
»Was war los, was wollten sie?« Michi war ungeduldiger als ich, setzte sich auf den anderen Sessel und sah meiner Mutter erwartungsvoll an.
Mama rauchte die Zigarette auf, drückte sie aus, stand auf, zog sich die Jacke aus, ging an mir vorbei.
Ich folgte jedem ihrer Schritte, jeder ihrer Bewegungen und bekam dennoch nichts mit.
Sie strich mir durchs Haar, bevor sie sich wieder setzte. »Hast du zu Hause angerufen?«, fragte sie Michi. Wie konnte sie es
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