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wenn es Zeit ist

wenn es Zeit ist

Titel: wenn es Zeit ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Tietgen
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haben mehrere Leute geschworen, der Knochen des Jungen …«
    »… sei gebrochen gewesen. Ich weiß.« Erstaunlicherweise werde ich nicht wütend. Ich fühle mich hilflos, setze mich zu Dirk auf das Bett.
    Jan bleibt stehen. »Was hast du mit ihm gemacht?«
    »Ich habe nur gepustet, wie meine Oma es bei mir getan hat, wenn ich Schmerzen hatte.«
    Dirk hustet, das Braun auf der Brust wird dabei noch etwas dunkler. Er richtet sich auf, stützt sich auf seinen Händen ab. »Ich will es ausprobieren. Nie wieder will ich eine solche Nacht erleben. Glaube mir, es ist der Horror.«
    Ich drücke ihn wieder zurück aufs Bett. »In Ordnung «, sage ich, all meinen Mut zusammenfassend. »Ich werde einfach auf deine Brust und wie bei einer Mund-zu-Mund-Beatmung in deine Lungen pusten. Und dann können wir alle nur …«
    Dirk nickt.
    »Hast du deswegen so gezögert?«, fragt Jan.
    »Ja« , sage ich. »Martin war bewusstlos, da war es für mich keine Frage. Aber …«
    Jan geht zur Tür und lehnt sich an den Rahmen als würde er Schmiere stehen.
    »Keine Angst. Ich denke mir nichts dabei.« Dirk zieht sich das Schlafanzugoberteil hoch. Die Brust riecht nach Menthol. Ich nähere mich dem grauen Nieselregen und puste in die braunen Stellen. Es entstehen kleine Wirbel um ihn herum, als ob der Regen durch den Wind ein bisschen aufgepeitscht wird.
    »Trau dich !«, fordert Dirk mich auf, als ich auf dem Bett ein kleines Stück näher zu seinem Kopf rutsche. Er öffnet den Mund leicht. Ich lasse ihn ausatmen und bitte ihn, die Luft anzuhalten. Dann lege ich meinen Lippen auf seine und puste ihm in den Mund. Drei Mal wiederholen wir das und ich habe tatsächlich das Gefühl, jeder seiner Atemzüge wird leiser.
    Ein merkwürdiges Gefühl von Wärme durchflutet mich, eine innere Gelassenheit, die ich noch nie empfunden habe . Und nach dem dritten Mal sagt dieses Gefühl: ›Jetzt ist es genug.‹
    »So schlimm war es doch nicht.« Dirk lacht, als ich von ihm abrücke.
    Dirk ist nicht mehr grau , die Brust nicht mehr braun. Er ist immer noch blass, die Schatten sind noch um seine Augen, aber sein Nieselregen ist zum Teil rot, zum Teil grün, nicht in deutlich voneinander getrennten Flächen, sondern irgendwie vermischt, aber klar zu unterscheiden. »Wann wirst du wieder untersucht?«, frage ich ihn.
    »Der Arzt kommt heute Abend noch einmal vorbei und horcht mich ab.«
    »Dann wird Jan mir sicherlich morgen in der Schule Bericht erstatten.«
    Die Mutter der beiden kommt, ohne anzuklopfen ins Zimmer und drängt Jan, der immer noch an der Tür steht zur Seite. Schnell zieht Dirk das Pyjamaoberteil wieder nach unten und die Bettdecke über seinen Körper.
    »Ach hier seid ihr. Dirk muss sich doch schonen.« Die Mutter schüttelt verständnislos den Kopf und schaut Jan an, als wolle sie ihm noch etwas sagen. Aber sie geht und nimmt die Wärme mit, die ich seit der Beatmung von Dirk in mir fühlte.
    »Dein Werk ist vollbracht«, sagt Jan. »Lassen wir meinen Bruder wieder schlafen.«
    Dirk protestiert nicht, als Jan mich aus dem Zimmer lotst. Es ist, als gehorchen beide einem Befehl, den ich nicht mitbekommen habe. Er bedankt sich etwas weniger förmlich, als er es bei der Anwesenheit seiner Mutter in der Küche gewesen ist, aber er lässt es sich nicht nehmen, aufzustehen und mir die Hand zu geben. Ich weiß nicht, was ich ihm antworten soll, außer: »Ich habe doch gar nichts getan.«
    Im Flur fragt mich Jan flüsternd, ob ich noch bleibe . Hier ist es bedrückend. Das dunkle Holz, die Enge und die orange gemusterte Blumentapete verbreiten die Atmosphäre einer Aufbahrung. Ich fühle mich wie in der Friedhofskapelle bei der Beerdigung meiner Oma. Wie einladend ist dagegen unser Wohnflur mit hellen Farben, abgewetzten Sesseln und Büchern, die einfach auf dem Tisch liegen. Ich schweige gern, aber in dieser Wohnung habe ich das Gefühl, schweigen oder flüstern zu müssen. Selbst in Dirks Zimmer hatte ich leiser als gewöhnlich gesprochen.
    Ich schüttle den Kopf. »Meine Mutter kommt sicherlich bald nach Hause.«
    »Schade.«
    Ich könnte ihn einladen, mitzukommen oder mich ein anderes Mal zu besuchen. Aber ich sage nichts. Ich hatte es mir immer schön vorgestellt, Zeit mit ihm zu verbringen. Doch im Moment möchte ich so schnell wie möglich fort, auch, wenn ich spüre, es liegt nicht an Jan.
    In der Küche verabschiede ich mich noch von der Mutter und bedanke mich artig für das Essen, bevor ich mir im Treppenhaus die Schuhe anziehe und

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