wenn es Zeit ist
ihm eine reinhauen, dann wieder nicht, dann wieder doch …
Bevor ich es tue, drehe ich mich einfach um und gehe.
Vom gehöhlten Stein (1976)
Etwas keuchend komme ich die Treppen hoch. Ich muss mich auf die Hausaufgaben konzentrieren. Vielleicht hätte ich sie gleich mit Jan machen sollen? Er hätte sich bestimmt gefreut. Was habe ich überhaupt auf?
Ich weiß nicht, warum, aber ich hole das Kästchen meiner Großmutter wieder aus dem untersten Regal. Oft hat es mich beruhigt, wenn ich wütend war . Es lag warm in meiner Hand und ich fühlte mich, als säße ich wieder auf ihrem Schoß. Jetzt bin ich nicht wütend, sondern verwirrt. Ich könnte den Atem meiner Oma gut gebrauchen, nicht gegen die Schmerzen einer Beule, nicht einmal gegen die Wolken sondern nur, um ihr nah zu sein. Ich sitze mit dem Kästchen auf meinem Bett, das Holz kribbelt warm in meiner Hand und ich komme zur Ruhe, atme gleichmäßig und denke an gar nichts.
Im Reich des Friedens steht die Hitze. D abei ist es nicht einmal heiß heute. Immer mal wieder hat es geregnet. Ich beschließe, zu duschen, mir den Schweiß von der Haut und die Verwirrung aus dem Schädel zu waschen. Klares Wasser, klare Gedanken. Konzentration auf das Wesentliche. Doch bevor ich dusche, stelle ich das Kästchen auf den Schreibtisch, öffne in allen Zimmern die Fenster und sorge für ordentlichen Durchzug.
Es tut gut, unter dem heißen Wasser zu stehen, nur der Wärme nachzuspüren und sich um nichts Gedanken zu machen. Es ist schön, das weiche Handtuch im Gesicht zu spüren, als ich mich wieder abtrockne. Manchmal ist es, als erblicke man von dahinter die Welt neu. Die Augen unter dem Wasser geschlossen halten, dann das Gesicht richtig ins Handtuch tauchen und langsam dahinter hervorschauen, als hätte man sich bis eben versteckt. Alles wirkt neu. Vertraut aber neu.
Der Durchzug hat etwas bewirkt . Als ich wieder in mein Zimmer komme, ist es nicht mehr so stickig. Das Handtuch um die Hüfte gebunden, gehe ich in die Küche, um das Fenster dort wieder zu schließen. Während des leicht rumpelnden Geräuschs, mit dem ich den Knauf des Fensters drehe, höre ich ein leises Scheppern aus meinem Zimmer. Es ist nicht beunruhigend. Ich gieße mir ein Glas Wasser ein, trinke einen Schluck, lasse mir Zeit, bevor ich zurückgehe, um mich anzuziehen. Erst als ich wieder in Shirt und Hosen stecke, meinen Ranzen auf den Schreibtisch stelle, um die Bücher und Hefte für die Hausaufgaben herauszuholen, fällt mir auf, dass das Kästchen meiner Großmutter nicht mehr auf dem Schreibtisch steht.
Ich schaue zu meinen Füßen, doch dort liegt es nicht. Auch auf dem Regal nicht. Ich bücke mich, sehe unter dem Bett nach, gehe um den Schreibtisch herum. Das Kästchen ist in den kleinen Spalt gefallen, der zwischen dem Holz und der Wand klafft, klemmt darin fest. Vorsichtig versuche ich, es hervorzuziehen, muss mich ein bisschen recken, um es zu erreichen. Ganz sicher kratze ich ein Stück Tapete ab, es knirscht, als ich das Kästchen nach oben ziehe. Der Verschluss ist aufgesprungen. Ganz leicht lässt sich der Deckel anheben.
Immer heißer brennt die Kiste in meiner Hand. Bestimmt ist es das Zeichen: Du bist so weit.
Zaghaft klappe ich den Deckel hoch. Um einen Zentimeter. Dann schließe ich ihn wieder, stelle das Kästchen so schnell auf das Regal, als hätte ich mich daran verbrannt, laufe ins Bad, wasche mir die Hände und setze ich mich an die Hausaufgaben.
Schwach konzentriert komme ich kaum voran. Immer wieder schaue ich auf das Regal zu dem Kistchen. Hatte meine Oma nicht gesagt, ich sollte es niemandem zeigen? Was, wenn Michi jetzt kommt und es geöffnet sieht? Niemals wird sie dann noch ihre Neugier zügeln können. Und Mama? Darf ich es ihr zeigen, darf sie es sehen? Ich stehe auf, nehme das Kästchen wieder in die Hand. Es prickelt. Warum ist die Angst hineinzuschauen so viel größer als die Lust, es zu tun?
Im Bettkasten ist es sicher. Von dort starrt es mich nicht permanent an. Also verstecke ich es unter der frischen Bettwäsche und setze mich wieder an den Schreibtisch.
Ich kann mich trotzdem nicht konzentrieren, sehe immer wieder auf die Uhr. Mama ist längst über die Zeit. Nur selten achte ich darauf, meistens arbeite in Ruhe, bis sie kommt.
Vielleicht lässt Jan mich morgen abschreiben. Es wird schon nicht so schlimm sein, einmal keine Hausaufgaben zu haben.
Ich setze mich in den Wohnflur, rauche die Zigarette, die ich sonst mit Mama gemeinsam
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