wenn es Zeit ist
Menschen erschossen hat?
»Ich hätte so gern jemanden, den ich fragen könnte. W ürde Oma doch noch leben.«
»Ich weiß« , sagt Mama. »Ihr hattet eine ganz besondere Verbindung. Vielleicht würde sie dir schon mit ihrer Überzeugung helfen, uns würde nichts zugemutet, das wir nicht tragen könnte.«
Von Omas Sonntagen (1960 bis 1967)
›Der liebe Gott.‹ Er hat weder in meinem noch in Mamas oder Papas Leben eine Rolle gespielt. Ich kannte ihn aus den Geschichten, die meine Oma mir oft erzählte, wenn ich auf ihrem Schoß saß oder in ihrem Zimmer von den Keksen naschte, die sie immer gebacken hat.
Oma war jeden Sonntagmorgen in den Gottesdienst gegangen. Egal, ob die Sonne schien, es regnete, stürmte oder schneite. Manchmal fragte sie mich, ob ich mit ihr kommen wollte. Mama und Papa lagen noch im Bett, wenn sie ging, ich spielte in meinem Zimmer mit den Plasticantsteinen, mit Puppen oder mit einem Quartett und wartete darauf, dass meine Eltern endlich aufstanden.
Oft leistete ich Oma Gesellschaft in der Küche. Sie machte mir Kakao und Marmeladenbrote und erzählte mir von Jona, der in einem Wal vor Gott floh, von Geschwistern, die ihren Bruder Jakob für ein Linsengericht verkauft haben, von Adam und Eva, von Joseph und Maria, die vergeblich nach einer Herberge suchten und in einer Scheune Jesus zur Welt brachten. Für mich waren diese Geschichten wie die Märchen, die meine Mama mir vorlas, nur bunter, fantasievoller. Die Geschichte von David und Goliath prägte sich mir besonders ein. Immer wünschte ich mir, wie David zu sein, der kleine und schmächtige Hirtenjunge, der durch einen gezielten Wurf aus der Steinschleuder zum Heerführer und schließlich zum König wurde. Immer wieder musste meine Oma mir diese Geschichte erzählen. Und sie freute sich, wenn ich danach fragte.
Um halb zehn band sie an jedem Sonntagmorgen die Schürze ab. Nie konnte man sie sonst ohne sehen. Es musste also ein besonderer Anlass sein. Sie putzte ihre Schuhe, zog ihren guten Mantel an und ging aus dem Haus.
Ein einziges Mal bin ich mit ihr gegangen. Am Eingang der Kirche schüttelte uns ein schwarz gekleideter Mann die Hand, lächelte über dem weißen gefächerten Kragen um seinen Hals, sah aber so ernst aus, dass er mir Angst machte. In der Kirche war es dunkel, obwohl Licht brannte. Die Bänke waren aus düsterem Holz, die Fenster klein und aus bunten Glassplittern, die kaum Sonne durchließen. Wenn jemand etwas sagte, flüsterte er. Aber die meisten Menschen gingen zu ihren Plätzen, blieben dort eine Weile mit gesenktem Kopf stehen und räusperten sich, wenn sie sich setzten. Danach bewegten sie sich kaum, obwohl die Bänke so hart waren.
Als die Orgel ohne Vorankündigung laut dröhnte, um den Einzug des schwarzen Mannes zu begleiten, presste ich mich vor Schreck ganz nah an meine Oma. Danach musste ich andauernd aufstehen, während alle irgendetwas murmelten, musste Lieder singen, deren Text ich nicht kannte und die so düster klangen, als untermalten sie einen Gruselfilm. Vor allem aber musste ich zuhören, während der schwarze Mann mit ernstem Gesicht so laut von der Kanzel donnerte, wie Papa war, bevor er uns schlug.
Ich liebte meine Oma, hätte sie bestimmt überall hin begleitet. Aber in den Gottesdienst bin ich nie wieder gegangen. Die Geschichten über Gott jedoch, die hörte ich mir von meiner Oma gern an.
Was ist, das ist
Von der Sehnsucht nach Ruhe (1976)
Ich schlafe erstaunlich ruhig, nachdem Mama gegangen ist. Keine Albträume, keine unruhigen Gedanken über brennende Zähne fletschende Kisten, die mich mit ihren Geheimnissen fressen wollen. Nur ein leichter Widerwille, Michi könnte die ganze Zeit über Recht gehabt haben und ein schlechtes Gewissen, weil ich mich nicht bei ihr gemeldet habe, um ihr von Dirk zu erzählen. Aber irgendwie auch das Gefühl, es ist nicht gut, Erfolge wie Trophäen zu sammeln und die aberwitzige Hoffnung, die Kraft könnte verloren gehen, wenn ich mir ihrer bewusst werde. Vielleicht, je mehr ich mit ihr prahle?
Beim Frühstück fällt kein Wort über unser nächtliches Gespräch. Genau das ist es, was ich brauche. Ein Stück Normalität, meine Unauffälligkeit, meine Unsichtbarkeit, ein Stück meiner selbst.
Jan sage ich in der Schule nur, er hätte sich schon bedankt. Es freut mich, dass es seinem Bruder besser geht. Mir geht es besser damit, nichts mit seiner Genesung zu tun zu haben. Wir kehren also auch in die Normalität zurück,
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