wenn es Zeit ist
trägt so ein Ungetüm und an einem langen Stock führt er eine Fahne bei sich, die schon in der Bahn aufgerollt jede Sicht verdeckt. Sie grölen Lieder und springen dabei ohne Takt auf und ab. So laut, wie sie schreien, bereue ich meine Entscheidung bereits auf der Hinfahrt. Schon die vielen Menschen wären mir zu viel gewesen, der Lärm, mit der sie sich bemerkbar machen, lässt mich verstummen. Wortlos folge ich Jan auf dem langen Fußmarsch von der Bahn zum Volksparkstadion, ängstlich bemüht, ihn nicht zu verlieren. Am liebsten würde ich mich wie ein Kind von ihm an die Hand nehmen lassen. Ich erkenne ihn nicht wieder. In der Schule ist er so schweigsam. Zu Hause hat er sich kaum getraut, lauter als flüsternd zu sprechen, aber hier brüllt er aus vollem Hals, singt, so weit man es so nennen kann, laut die Lieder der Fans mit, stößt mir immer wieder in die Seite, damit ich auch mitgröle, dabei scheitert es bei mir schon am Text.
Am meisten verwirren mich die Farben. Nicht die der Fahnen oder der Fans. Da herrschen vier Grundtöne: Schwarz und gelb für den Gegner Borussia Dortmund, weiß und blau für den HSV. So sind die Fans leicht voneinander zu unterscheiden, finden sich, wenn sie Krawall suchen, sich anpöbeln oder anrempeln wollen, bis mutige Ordnungskräfte dazwischen gehen und dem Einhalt gebieten. Nein, das Meer des Nieselregens ist unglaublich. Die Farben mischen sich, fließen durcheinander, stoßen sich ab wie gegenpolige Magneten und ziehen dabei doch alle in die gleiche Richtung.
Es scheint, als hätte mittlerweile jeder Mensch seine Farben . Und alle Farben explodieren wie ein großes Orchester in meinem Kopf. Manchmal, wenn die Farben so grell vor mir schwirren, dass sie wehtun, muss ich die Augen schließen. Ich kann mich kaum an dem klaren Blau von Jan orientieren. Zu sehr verliert es sich im Gewühl der Menschen.
Die Ordner tast en uns ab, bevor sie uns ins Stadion lassen. Unsere Tickets werden abgerissen, wir suchen uns in der Westkurve einen Stehplatz, dicht gedrängt zwischen anderen Fans, die brüllen, singen und trinken.
Kaum ist das Spiel angepfiffen und der Ball ein paar Mal hin und her geschoben, flucht Jan laut . Wenn ich ihm glauben darf, sehen wir die beste Mannschaft, die es im Land gibt, den Topanwärter auf die Meisterschaft dieser Saison. Schwärmerisch zählt er Namen auf: ›Kargus, Kaltz, Blankenburg, Björnmose, Volkert.‹ - Namen, die mir nichts sagen. Schon nach vier Minuten liegt diese beste Mannschaft zurück.
Spannender als das Geschehen auf dem Spielfeld ist es für mich , Jan anzuschauen. Wenn er gebannt auf den Platz starrt, die Spieler anfeuert oder bei einem Fehler motzt, ist er von einer Lebendigkeit, die in mir mehr denn je den Wunsch wachruft, ihn einfach zu küssen. So sehr mich die Atmosphäre im Stadion schreckt, so sehr ich mich nach Hause sehne, in mein Zimmer, ein Buch vor der Nase, eine Welt, in die ich still versinken kann, so sehr erfüllt mich das Leben in Jan mit Wärme für ihn. Ein Gefühl, das überfließt, eine Spannung, die kitzelt, wie ein elektronischer Zaun an einer Weide. Wenn ich ihn im Gedränge versehentlich berühre, zucke ich genau so zurück, als hätte ich einen solchen Zaun angefasst.
Das ganze Spiel ist in seinem Gesicht abzulesen. Der Aufbau von Chancen, gelungene Spielzüge, verpasste Gelegenheiten, Fehlpässe, alles findet in seiner Mimik statt, im geöffneten und geschlossenen Mund, in Zuckungen der Wange, in den Augen. Lautstark brüllt er seine Gefühle heraus. Die Gegentore verfinstern sein Gesicht. Für dieses Erleben, für die Liebe, die es in mir weckt, hat sich der Besuch im Stadion gelohnt. Auch, wenn sie aussichtslos bleiben muss, wenn sie für immer ungeteilt nur mir gehören wird, sie fühlt sich warm, schön, erregend und beruhigend an. Fort sind alle Gedanken an eine Gefahr, in der Jan stecken könnte, nur, weil er mit mir befreundet ist.
Es fallen bis zur Pause drei Gegentore . Ich würde so gern die Freude in seinem Gesicht sehen, den Jubel, der sich entlädt, wenn Jan mit dreißigtausend anderen Fans emporspringt, aber bisher kenne ich nur den Ärger, wenn die andere Mannschaft trifft.
Selbst in der Halbzeit schaue ich viel zu fasziniert auf Jan, um es kommen zu sehen, kenne keine Entwicklung, registriere nur plötzlich das Gesicht eines Erwachsenen ganz nah bei Jan, eine Hand, die seinen Schal packt und verdreht und eine wütende Stimme, die brüllt: »Kannst du nicht aufpassen?«
Es ist kein
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