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wenn es Zeit ist

wenn es Zeit ist

Titel: wenn es Zeit ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Tietgen
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hänge.
    »Wie war es?«, fragt sie und lächelt mich an.
    »Toll«, murmele ich, setze mich still zu ihr und zünde mir eine Zigarette an. Schweigend rauche ich. Wie halte ich eigentlich meine Zigarette, wie spitze ich die Lippen, wenn ich den Dunst ausatme? Kann man mich daran als Perversen erkennen?
    »Was ist los?«, fragt Mama. »Du wirkst so bedrückt.«
    »Nichts.«
    »Gab es einen Unfall? Musstest du wieder helfen?«
    ›Von welchem Unfall möchtest du hören? Von der Prügelei im Stadion, vom Abschiedskuss?‹
    »Nein.« - ›Höchstens einen Unfall in meiner Lebensplanung.‹ - »Es ist alles in Ordnung, Mama. Ich bin nur erschöpft.« Ich drücke die Zigarette aus und stehe auf. »Wenn ich geduscht habe, wird es mir wieder besser gehen.«
    »Hast du Hunger?«
    Noch bevor ich antworten oder nicken kann, legt sie die Zeitung zusammen.
    »Noch nicht.«
     
    Im Badezimmers piegel suche ich nach Spuren. Wie erkennt man, wer man ist? Kann man es an dem zarten gelben Ring um meine Iris erkennen, an der kleinen Hautverfärbung auf der Stirn? An Pickeln oder Mitessern? Ich sehe doch normal aus, eigen aber doch wie jeder. Gern würde ich mehr als die Schultern von mir sehen, nach Zeichen suchen, die anders sind.
    ›Du findest nichts.‹
    Vielleicht ist es nur eine Phase? Unter der Dusche schließe ich die Augen, genieße den Strahl und die Wärme. Ich sollte Jan anrufen. Aber was will ich ihm überhaupt sagen? Was wird passieren, wenn ich ihm am Montag in der Schule gegenüberstehe? Bestimmt weicht er mir ängstlich aus, lauert, ob ich auf ihn zukomme oder ihn meide. Werden wir uns in die Augen schauen können? Was passiert, wenn ich ihn küsse? Er hat keine Knochenbrüche, kein Asthma. Er ist gesund. Ist mein Atem wie eine Überdosis Medizin? Wird er daran sterben? Ist meine Kraft, wenn ich sie habe, sein Verderben? Ich kann es doch nicht einfach ausprobieren.
    Ich versuche, die Gedanken mit dem Wasser ins Handtuch zu reiben. Sollen sie doch daran hängen bleiben, mich allein lassen. Die Dusche tat gut, aber die Reinigung ist nicht tief genug. Der Spiegel ist beschlagen von der Hitze des Wasserdampfs, viel zu matt um noch etwas darin zu sehen und doch stutze ich kurz, als ich einen Blick hineinwerfe.
    ›Das kann nicht sein.‹
    Ich nehme das Handtuch, wische damit den Spiegel ab. Ich muss mich getäuscht haben. Bestimmt ist es nur der feuchte Dunst, der meine Augen narrt. Aber auch, als das Glas trocken ist, bleibt der Anblick der gleiche. Um meinen Kopf schwirren Teilchen, weißer Nieselregen mit zarten Punkten in allen Farben des Regenbogens wie ein Energiefeld, wie die Atommodelle in den Physikbüchern.
    Ich starre in den Spiegel, kann meinen Blick nicht von den schwirrenden Punkten lösen, obwohl ich nichts damit anzufangen weiß. Aber die Gedanken scheinen in diesem Feld aufgesogen zu werden. Auf einmal spiel Jan keine Rolle mehr, der Kuss wird für den Moment unwichtig. Ich frage mich nicht einmal, ob das die Farben sind, an denen man mich erkennt. Ich denke gar nichts, ich starre nur.
    »Bist du so weit?« Meine Mutter klopft an die Tür, weckt mich aus der Trance. »Ich habe Hunger.« Habe ich so lange geduscht?
    »Gleich«, rufe ich, werfe einen letzten Blick auf den Niesel, bevor ich in mein Zimmer gehe und mich anziehe.
    Ich schaue auf meinen Arm, sehe an mir hinab. Überall sind die Farben, die um mich glühen und leuchten.
    Mama sitzt schon am gedeckten Tisch, hat sich eine Tasse Tee eingeschenkt. Unsicher setze ich mich ihr gegenüber auf den anderen Sessel und lächle sie an. Sie ist blau. Nicht so wie Jörg oder Jan. Ihr Blau ist marmoriert, zum Teil blass, zum Teil richtig dunkel.
    »Guten Appetit.«
    Ich warte auf eine Reaktion, doch sie setzt nur die Tasse ab, nimmt sich eine Scheibe Brot, die sie mit Butter bestreicht.
    »Gleichfalls.« Sie belegt das Brot mit einer Scheibe Schinken, als sei nichts geschehen, lehnt sich zurück und sagt: »Dir scheint es wieder besser zu gehen.«
    »Siehst du die Farben nicht?«
    »Welche Farben?« Sie beißt von ihrem Brot ab, als hätte ich ihr von der letzten Deutscharbeit erzählt.
    »Schau mich mal an!«, fordere ich sie auf und erkläre ihr, was sie sehen müsste. Doch sie schüttelt den Kopf.
    »Die Sonne dir gut getan hat. Du bist nicht mehr so blass.«
     
    Nach dem Abendbrot rauchen wir noch eine Zigarette zusammen. Ich erzähle ihr von den Farben, die immer mehr werden, davon, dass das Leben für mich manchmal aussieht, als schaue ich permanent

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