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wenn es Zeit ist

wenn es Zeit ist

Titel: wenn es Zeit ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Tietgen
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Fan von Dortmund, das ist an der Kleidung zu sehen. Mit der freien Hand versucht er, Jan die Fahne aus der Hand zu reißen. Das Gesicht meines Freundes ist rot, die Augen sind aufgerissen und er stammelt leise: »Entschuldigung.«
    Um das Spielfeld läuft eine Blaskapelle , die meisten Zuschauer sind hinter den Tribünen, holen sich eine Wurst oder neues Bier und kommen mit vollen Händen zurück.
    »Von wegen Entschuldigung« , schimpft der Erwachsene. Ich schätze ihn auf dreißig. »Jetzt ist es zu spät. Du hättest vorher aufpassen sollen.« Dabei dreht er den Schal noch etwas fester zu und ich höre Jan nach Luft schnappen, sehe eine Träne, die ihm aus dem Auge läuft und sehe seinen Niesel, der sich um Jans Hals dunkelbraun verfärbt.
    »Es tut mir leid«, schreit er atemlos und ängstlich.
    Ohne zu überlegen und ohne Vorwarnung schlage ich zu, treffe den Kerl direkt am Kinn, höre es krachen, sehe den Mann straucheln und auf der Suche nach seinen Gleichgewicht taumeln, bevor er gegen einen anderen Fan prallt und von ihm aus zu Boden fällt. Sofort bin ich über ihm, presse mein Knie auf seine Brust, hebe die Faust erneut. Kein Wort sage ich. Nur immer rein in die Visage, in die ängstliche Fratze. Sich an Kleineren und Schwächeren vergreifen, das könnte ihm so passen …
    Doch ich komme zu keinem zweiten Schlag. Jan hat sich gefangen, läuft mir hinterher, hält meine Faust fest und brüllt: » Henrik!«
    Ich spüre die Berührung, höre ihn schreien, reiße ihn fast mit, als sich meine Faust dennoch zum zweiten Mal in das Gesicht senken will.
    »Hör auf Henrik!« Jan umklammert mich, reißt mich hoch, zieht mich von dem Mann und zerrt mich zurück an unseren Platz. »Bist du wahnsinnig geworden?«
    Der Erwachsene steht auf. »Wir sehen uns nach dem Spiel, Freundchen!« Er klopft sich den Staub von der Hose und von seinem Shirt, wirft mir noch einen giftigen Blick zu, bevor er sich umdreht und weiter nach vorne geht. Erst jetzt sehe ich eine Wurst zu unseren Füßen, die Pappe, von der sie heruntergefallen ist, liegt gleich daneben, Senf ist auf dem Boden verschmiert.
    »Er war doch nur so wütend, weil ich ihm mit meiner Fahne die Wurst aus der Hand geschlagen habe.«
    Scheiße. Auf einmal weiß ich wieder, warum ich mich in der Schule die ganze Zeit versteckt und nie mit ihm verabredet habe. Er mag mich nicht, obwohl, sondern weil ich so abweisend war. Er sollte mich nicht kennenlernen. Er sollte das Monster in mir nicht zu sehen bekommen. Wenn man mich nicht sieht, bin ich auch nicht gewalttätig, wenn man mich nicht reizt, schlage ich nicht um mich. Bin ich allein, kann ich mich besser kontrollieren.
    Schuldbewusst sehe ich Jan an. »Entschuldigung.« Ich beiße mir auf die Lippen, versuche diese jämmerlichen Tränen zurückzuhalten. Ich habe zugeschlagen, also keinen Grund, zu flennen. Es ist doch so lange nicht passiert. Hätte es nicht einfach so bleiben können? Ich verbeiße mir die Rechtfertigungen. Natürlich hätte dieser Kerl ihn auch nicht gleich am Schal packen müssen, aber es ist egal. Jan hat die dunkle Seite gesehen.
    Er sagt nichts, schimpft nicht weiter mit mir, wendet sich wieder dem Spiel zu. Ich versuche, wieder in sein Gesicht zu sehen, die gleiche Liebe darin zu entdecken, die gleiche Lebendigkeit. Bestimmt sind sie da, aber ich kann sie nicht sehen. Ich sehe nur noch matte Farben. Dabei gibt es Jubel in seinem Gesicht. Der HSV holt auf, Jan schöpft, wie die anderen Fans, Hoffnung. Innerhalb von fünf Minuten gibt es zwei Tore, bevor Dortmund ein viertes schießt.
    Neue Hoffnung als Hamburg einen Elfmeter bekommt, den Volkert verwandelt . Die Zuschauer fangen an zu singen, feuern ihre Mannschaft an. Es ist so spannend, dass es mich überrascht, als Jan mir schon zehn Minuten vor dem Abpfiff auf die Schulter fasst und durch den Lärm zuruft: »Lass uns gehen!« Ach, hätte er doch seinen Mund ganz nah an mein Ohr geführt. »Dann musst du nicht wieder in die überfüllte Bahn und vor allem entgehen wir dem freundlichen Herrn dort vorn.« Mit einer Kopfbewegung deutet er in die Richtung, in die der Mann, der ihn am Schal gepackt hatte, verschwunden ist.
    Jan hat es gemerkt. In all seinem Leben hier im Stadion, in seiner Begeisterung hat er einen Blick für mich behalten und gemerkt, wie unwohl ich mich fühlte in dieser Kakofonie.
    Dankbar nicke ich, folge ihm aufgeregt durch die Zuschauermenge zum Ausgang.
    Draußen ist es ruhiger. Nur ein paar andere sind mit uns aufgebrochen.

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