wenn es Zeit ist
Und das, obwohl wir nun schon seit drei Jahren fast alle Pausen zusammen verbringen.«
»Über mich gibt es nichts zu wissen.« Weder habe ich ihm über meinen Vater erzählt, noch über unsere Flucht vor ihm mit dem Linienbus. Er hat keine Ahnung von Jörg, von Gefängnissen, Kasinos, Spielautomaten und Banküberfällen.
»Magst du mich?« Wie kann er das fragen? Er ist doch nicht meine Ehefrau, nicht die Geliebte, die einen Kuss erbettelt.
»Natürlich mag ich dich.«
›Sieh ihn an, sonst meinst du es nicht ehrlich!‹
Ich schiebe die Hände unter meine Schenkel, rutsche unruhig auf ihnen hin und her. Schon bei Michi hasse ich solche Gespräche.
»Ich habe immer das Gefühl, du weichst mir aus. Du rufst in den Ferien nie an, verabredest dich nie mit mir, gehst nicht auf Partys, erzählst nichts von dir und willst auch über mich nichts wissen.«
›Er glaubt dir nicht. Du hast ihn nicht angesehen.‹
»Muss ich das, um dich zu mögen?« Er ist blau. Schon ein Tag im Schwimmbad mit mir kann für ihn gefährlich werden. Je mehr ich über ihn weiß, um so näher ist ihm der Tod.
»Ich finde es schade«, sagt er, » wenn wir nur in der Schule zusammensitzen. Ich hätte so gern einmal Spaß mit dir, möchte mit dir lachen oder reden oder eben mal zum Fußball gehen.«
Hätte er doch eine Ahnung davon, wie gern ich das täte.
Der Gong ruft uns in den Unterricht zurück. Jan steht auf, sicher, ich werde ihm folgen. Das Blau um seinen Körper leuchtet in der Sonne. Sein Haar ist vom Sommer immer noch ein bisschen ausgeblichen. Sein Kopf ist gesenkt und ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Egal, wie abweisend ich war, immer noch mag er mich. Könnte ich ihm doch bloß sagen, in welcher Gefahr er schwebt. Ich kann doch nicht sein Leben riskieren, nur damit er nicht traurig ist. Vielleicht hatte Jörgs Tod ja nichts mit dem Blau zu tun, sondern war nur ein Zufall?
Am liebsten liefe ich Jan hinterher, legte ihm meinen Arm um die Schulter und küsste ihn vor allen anderen Schülern. Vielleicht hätte es sich erledigt, könnte er entsetzt zusammenzucken, mir eine Ohrfeige geben und mich als schwule Sau bezeichnen. Wäre ich ihm das nicht schuldig? Er dürfte mich verachten. Was soll ich dann in den Pausen tun? Aus meiner Unsichtbarkeit heraustreten und ganz allein auf der Bank sitzen?
Eigentlich sind das alles nur blöde Überlegungen. Meinetwegen können wir zum Boxen gehen, ins Theater oder in ein langweiliges Museum. Ich mag es nicht, wenn er traurig ist und vor allem möchte ich ihn in meiner Nähe.
»Warte!« , rufe ich ihm hinterher und lege, als ich ihn einhole tatsächlich den Arm um seine Schulter. »Wann wollen wir uns Samstag treffen?«
Er schüttelt den Arm nicht ab.
Fantasien werden wach. Seine Traurigkeit hat das irre Phantom der Hoffnung in mir platziert, er könnte genau so empfinden wie ich. Mein Herz klopft bei der Geste kameradschaftlicher Freundschaft so laut, dass ich den Arm wieder fortnehme vor lauter Angst, Jan könnte es an meinem Pulsschlag bemerken. Ich sehe uns in einem Zimmer, liege im Bett, während er sich vor mir umzieht, sehe seinen flachen Bauch, seine Beine …
»Du musst nicht mitkommen, wenn es dich nicht interessiert.«
»Ich möchte mit.«
»Okay, dann treffen wir uns um zwei am Bahnhof Barmbek unten am Blumenstand.«
Von Strom und Masse (1976)
»Viel Spaß«, lautet Michis knapper Kommentar, als ich ihr von meinem Vorhaben erzähle. Von einem möglichen Besuch im Gefängnis reden wir nicht mehr. Auch die Kiste habe ich wieder aus meinem Kopf geschoben. »Liebe macht anscheinend nicht nur blind, sondern blöd. Wie kannst du freiwillig zum Fußball gehen?«
»Bist du etwa eifersüchtig?«
»Ja.«
»Schön.« Ich gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. »Aber es gibt keinen Grund dazu.«
»Na hör mal. Du gehst zu etwas, das du auf den Tod nicht ausstehen kannst. Dir sind schon dreißig Leute auf einer Kirchenfreizeit zu viel, aber die dreißigtausend dort machen dir nichts aus? Und da soll ich nicht eifersüchtig sein? Für mich würdest du so etwas nie machen. Aber für Jan. Bist du etwa wirklich ..?« Sie grinst, erwidert den Kuss und sagt noch einmal: »Viel Spaß.«
Worauf lasse ich mich ein? Die S-Bahn schaukelt in den Gleisen, als müsste sie gleich herausspringen. Fans lassen die Bierflaschen kreisen und ich bin wohl der Einzige, der keinen blauweißen Schal um den Hals hat. Dabei ist der 14. August. Es ist viel zu warm für einen Schal.
Selbst Jan
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