wenn es Zeit ist
ins Schweigen, das wir teilen, wenn wir gemeinsam auf einer der Bänke auf dem Schulhof sitzen und den anderen zusehen.
Es ist August, die Sonne steht noch hoch am Himmel, wärmt uns und setzt uns in eine wohlige Schläfrigkeit, bei der wir fast das Läuten überhören. Es ist ein schöner ruhiger Tag.
Nicht einmal der Reporter lässt sich nachmittags blicken, mit Michi verabrede ich mich in der Innenstadt, wir setzen uns an die Alster, schauen den Schwänen zu und den Schiffen auf ihren Rundfahrten. Wir überlegen, ein Tretboot zu mieten, aber es ist uns zu teuer. Kein Wort fällt über Fähigkeiten, nicht einmal über die offene Kiste, deren Inhalt ich mir immer noch nicht angesehen habe.
In dieser Ruhe reift eine Idee, eine, an die ich vor einem Monat noch nicht einmal im Traum gedacht hätte, die mir aber jetzt einleuchtend erscheint. Als ich Michi nach Hause bringe und wir schon vor dem Hotel stehen, teile ich ihr die Idee mit: »Ich möchte meinen Vater besuchen.«
»Das finde ich gut.«
Ich hatte erwartet, sie würde mich für verrückt erklären und versuchen, es mir auszureden.
»Alles, was gerade auf dich einstürzt, scheint mit deiner Großmutter zu tun zu haben. Jedenfalls hast du das Gefühl. Wer könnte dir mehr über sie erzählen, als dein Vater?«
»Ich weiß nur nicht, was Mama dazu sagt.«
»Sie wird es verstehen.«
»Und ich habe Angst vor ihm.«
»Soll ich mit dir gehen?«
»Das wäre nett.«
Michi lehnt sich mit einer Hand an die Gartenpforte und holt tief Luft. Sie sieht immer noch fremd aus in einer Kostümjacke und einem Rock . So erwachsen.
»Meinst du nicht, du solltest vorher das Kästchen öffnen?«, fragt sie. »Vielleicht macht dich das etwas schlauer?«
Ich stecke die Hände in die Hosentasche, drehe die Schultern ein bisschen unruhig hin und her. »Es ist schon offen. Es ist mir gestern hingefallen.«
»Und das verschweigst du mir den ganzen Nachmittag?« Zum Glück lächelt sie etwas in ihrer Empörung. Aber natürlich ist ihre Neugier nicht verflogen. »Was ist drin?«
»Ich habe mich noch nicht getraut, hineinzuschauen.«
»Ich verstehe dich nicht.« Sie setzt sich auf den Steinpfosten, an dem das Gartentor angebracht ist, und schüttelt den Kopf. »Ich würde wer weiß was darum geben, nicht so gewöhnlich zu sein, nicht so entsetzlich mittelmäßig, sondern etwas Besonderes. Ich würde mir für mein Leben so sehr mal etwas Geheimnisvolles wünschen. Du weißt das gar nicht zu schätzen. Immer trifft es die Falschen.«
Ich stelle mich vor sie, lege meine Hände auf ihre Oberschenkel. »Wer sagt, du wärest mittelmäßig oder hättest nichts Geheimnisvolles? Du hast Mut, du weißt, was du willst, bist neugierig und du bist die beste Freundin, die ich mir wünschen kann. Wahrscheinlich ist der Inhalt der Kiste völlig langweilig und wir sind enttäuscht, wenn wir ihn kennen.«
Sie streicht mir über den Kopf. »Ich bin die einzige Freundin, die du hast. Da ist es leicht, die beste zu sein.«
»Wann gehen wir zu meinem Vater?«
Ich hasse es, wenn es persönlich zwischen uns wird. Sie ist der einzige Mensch, der alles über mich weiß, aber ich kann es nicht leiden, wenn wir selbst das Thema unserer Gespräche sind. Es nimmt dem Wissen die Selbstverständlichkeit, die Leichtigkeit, die ich brauche, um unsere Offenheit ertragen zu können.
Michi lacht. »Ja, lenk nur ab. Ich glaube, es ist wie in Krankenhäusern. Mittwochs und an den Wochenenden ist Besuchstag. Aber ich erkundige mich noch mal. In der Kirche gibt es so eine Besuchsgruppe. Die Leute daraus müssten es ja wissen.«
»Danke.« Ich gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. Ach, wären doch alle Tage so : voller Sonne, ruhig und normal.
Von Entspannung und Veränderung (1976)
Keine Zeitungsartikel mit Bild, keine Menschen, die Hilfe suchend zu mir kommen, keine Katastrophen in meiner Umgebung. Das Leben des August 1976 verläuft wieder in ruhigen Bahnen. Schule, gemeinsames Schweigen mit Jan. Zu Hause die gemeinsame Zigarette mit Mama, kochen, essen, schlafen. Habe ich mich zu wichtig genommen, haben andere es getan? So schnell der Aufruhr da war, so schnell ist er auch wieder vergangen. Das Leben, wie es ist, jenseits von Abenteuern, Geheimnissen oder Aufregung.
Das Kästchen der Großmutter verstaubt in meinem Bettkasten. Besitzt es wirklich einen Zauber, scheint es dafür noch nicht an der Zeit zu sein.
Kein Reporter hat sich mehr gemeldet. Ich habe noch die Visitenkarte im Portemonnaie,
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