wenn es Zeit ist
Polizisten stehen an den Ausgängen Spalier, nicken uns zu und lassen uns passieren.
»Ich fürchte, du wirst nicht wieder mit mir kommen«, sagt Jan, nachdem wir ein paar Schritte gegangen sind.
Ich schweige. Es war grässlich, aber es war schön, etwas mit ihm zu unternehmen. Warum habe ich das bisher nie gemacht?
»Es hat dir nicht gefallen«, setzt er nach wie die Stürmer, die einem abgewehrten Ball noch einmal hinterherlaufen. Ich bleibe stumm. Gern würde ich seine Hand nehmen, irgendetwas tun, was ihm nur ansatzweise mitteilt, was in mir vorgeht. Aber ich traue mich nicht. Wie konnte ich bei Michi so mutig sein, ihr einfach die angeblich gebrochene Nase zu küssen? Bei Jan gelingt mir gar nichts. »Das Spiel war auch enttäuschend«, räumt er ein. »Gegen Dortmund hätten sie haushoch gewinnen müssen. Ich hätte mehr erwartet. Da kann ich fast verstehen, wenn du nicht wieder mitkommen wirst.«
»Es liegt nicht an dem Spiel. Ich halte so viele Menschen nicht aus.« Beinahe möchte ich ihm von den Farben erzählen, die ich in dieser Fülle noch weniger aushalte, die lauter schreien, als die Fans es je vermögen. Fast möchte ich ihm erzählen, wie toll es war, sein Gesicht zu beobachten. Aber mir fehlt der Mut.
Wir fahren zurück, gehen zu Fuß vom Bahnhof Barmbek den Rübenkamp entlang, bis wir vor seiner Tür stehen.
»Kommst du noch mit rein?«, fragt er. Ich schüttle den Kopf.
»Schade. Es war echt toll, mal etwas mit dir zu unternehmen.« Den ganzen Weg verliert er kein Wort über den Zwischenfall in der Halbzeit.
»Ja, das fand ich auch«, antworte ich, zucke leicht zurück, weil ich ihn umarmen und küssen möchte, weil ich ihm nicht ins Gesicht schauen kann, ohne diese Sehnsucht zu spüren, während er mir artig die Hand reicht. Warm fühlt sie sich an, ich halte sie ein bisschen zu lange in der meinen. Das ist die Nähe, die ich mir gönne. Warum ist es mit Michi so leicht und mit ihm so schwer?
Jan schaut an mir vorbei, den Rübenkamp entlang, dreht sich um, sieht auf die andere Straßenseite zum Kindertagesheim, zur Ampel in Richtung Barmbeker Krankenhaus und ängstlich, fast geduckt, zu den Fenstern der Wohnung, in der er lebt. Seine Hand, die ich immer noch in meiner halte, wird langsam feucht vor Schweiß. Während er sie mir ruckartig entzieht, beugt er sich vor. Hastig, als täte er etwas Verbotenes, küsst er mich auf die Wange, eine zehntel Sekunde lang vielleicht, bevor er sich wieder in alle Richtungen umblickt. Dann stürzt er ins Haus.
Von blinden Zerrspiegeln (1976)
Ich müsste mich freuen, jubeln, Michi anrufen, um ihr zu erzählen, was passiert ist. Nein, das besser nicht.
D er Abdruck von Jans Lippen brennt in meinem Gesicht. Ich hatte nicht einmal Zeit, den Kuss zu erwidern.
Stattdessen schleiche ich nach Hause. Wenn es noch einer Sicherheit bedurfte, habe ich sie gerade bekommen. Wie soll ich den Verkehr auf der Fuhlsbütteler Straße beachten, wenn es so in mir brodelt?
Hat Jan mich etwa erkannt? Hat er geahnt, was ich mir während des ganzen Fußballspiels gewünscht habe? Hat er mitbekommen, dass ich viel mehr auf sein Gesicht als auf das Spiel gesehen habe, und wollte mir nur einen Gefallen tun?
Oder fühlt er dasselbe, bringt sich in Gefahr, indem er meine Nähe sucht?
Wahrscheinlich sitzt er jetzt aufgelöst auf seinem Bett und rätselt, ob er am Montag in die Schule gehen wird, weil er nicht weiß, ob ich ihn verachte.
Träume, die wahr werden, sind eine Katastrophe, Fantasien, die Realität werden, sind der Anfang vom Ende, denn sie setzen neue, intensivere Vorstellungen frei. Was bleibt, wenn die Wirklichkeit die Träume einholt?
Du bist schwul Henrik. Bis vor sieben Jahren wärest du ein Verbrecher gewesen. Du bist das wandelnde Schimpfwort, mieser als ein Schläger, schlimmer als dein Vater. Du bist die Tunte, über die alle lachen.‹
Ich schaue auf die sich in der Sonne spiegelnden Fensterscheiben, beobachte, wie ich gehe, sehe i n mein Gesicht. Sieht man es mir an? Bewege ich mich weiblich? Wie spreche ich eigentlich? Rede ich mit nasaler Stimme? Jan spricht doch völlig normal, zieht die Worte nicht ineinander, singt die Satzmelodien nicht. Er geht wie alle gehen. Aber er ist ja auch nicht schwul. Er wollte mir ja nur zeigen, dass er mich mag.
Ich treffe kaum das Schloss, als ich die Wohnungstür öffne. Mama sitzt auf einem der Sessel im Wohnflur und liest Zeitung. Sie blickt kurz auf, als ich meine Jacke an die Garderobe
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