wenn es Zeit ist
Schatz? Dafür hätte ich beinahe meine beste Freundin verprügelt? Gut, auch meine Großmutter hatte ihren Atem, sie hatte die gleiche Kraft wie ich, aber wozu dann diese Floskeln? Brauchte sie die? Ich kippe die Kiste um, die Zettel fallen auf mein Bett. Vielleicht gibt es ja einen doppelten Boden, irgendein zusätzliches Geheimnis, das sich mir offenbart?
Nichts.
Erst, als ich enttäuscht das ganze Papier zurück i8n das Kästchen lege, sehe ich unter dessen Deckel geklebt einen weiteren Zettel, ausgerissen aus einem Ringbuch, nur einmal gefaltet und in normaler Schrift verfasst.
Gefäß für Segen und Verderben.
Du entscheidest, wer dich füllt.
Der Allmächtige und der Leibhaftige speisen dich mit ihrem Odem.
Du entscheidest, welchen davon du weiterhauchst.
Mein lieber Henrik,
nun hat die Liebe dich zu mir geführt. Die Sehnsucht weckende Morgenröte des ersten Kusses, verwirrend und gefährliches Lebenselixier, gegeben von einem Jüngling.
Der Vater, durch mich vom Herrn mit Leben beschenkt, ward deine erste Prüfung. Nicht achtend, womit er bedacht, konnte er dich nur die dunkle Seite lehren.
Dir schenkte der Herr durch mich die Kraft, die dich zur hellen Seite führte.
Sie liegt in der Anima, gräme dich also nicht, wenn du den Animus zärtlich begehrst.
Die Hüter des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes warfen uns in die Flüsse und Feuer, verbrannten ihren Glauben in der Inquisition, um ihn zu schützen.
Sie werden deine Liebe verwerflich finden, deine Gabe blasphemisch. Sie können die Quelle, die dich speist, nicht sehen vor lauter Gottgefälligkeit.
Lasse dich davon nicht blenden. Der Allmächtige ist mit dir.
Die Gebete werden dir angesichts deiner Fülle durch ihn unnötig erscheinen. Bewahre sie auch, wenn du sie nicht brauchst. Halte sie in Ehren und gib sie nicht gedankenlos weiter, sonst geht ihr göttlicher Zauber verloren. Sie sind nur für Gefäße bestimmt.
In unserer Linie wirst du das letzte Gefäß sein, aber bevor dein Leben zur Neige geht, wirst du jemanden finden, dem der Herr durch dich den göttlichen Atem einhaucht.
Bleibe demütig, es bist nicht du, der zerstört und heilt. Zähme deine Wut. Dann wird deine Liebe glühen und dich wärmen.
All die Worte über Gefäße und Gottes Gnade, all die wirren Gedanken und Andeutungen verblassen hinter einer prophetischen Betrachtung. Zwei verschämt verklausulierte Sätze mindern die Enttäuschung und Leere, die mich angesichts der Sprüche auf den gefalteten Zetteln schon beschlichen hatte. Durch sie kann ich die Zeilen nicht als das wirre Geschreibsel einer alten Frau ansehen.
Woher hat sie das gewusst?
Der Niesel spielt verrückt, die Farben ändern sich im Takt von Zehntelsekunden. Ich möchte den Brief lesen und verstecken, verstecken und lesen, wieder in den Deckel der Kiste kleben und diese wieder in meinem Bettkasten verbergen, doch ich weiß, ich werde sie gleich wieder hervorholen, den Brief noch einmal lesen und immer noch nicht glauben, was Oma geschrieben hat.
Wen kann ich anrufen, wem kann ich von dem Brief erzählen? Darf ich ihn überhaupt jemandem zeigen? Darf ich jemandem sagen, dass ich die Kiste endlich geöffnet habe?
Wenn ich es Michi erzähle, wird sie wissen wollen, was darin ist. Sage ich ihr ›nur ein paar Zettel‹, wird Michi sie lesen wollen. Berichte ich ihr von der Enttäuschung, hebe ich den Grund für das Geheimnis auf und erzähle ich von dem Brief und der prophetischen Gabe, wird sie sich mit eigenen Augen davon überzeugen wollen. Möchte ich nicht genau das? Dem Spuk ein Ende bereiten und endlich wieder normal sein?
Jan weiß noch nicht einmal etwas von der Kiste , er wird mich für verrückt halten, und wenn ich ihm den Brief zeige, kann er alles zerstören und sagen, es wäre nur ein brüderlicher Kuss gewesen.
Mama müsste ich erklären, warum mich gerade diese Stelle so in Aufruhr versetzt, dass ich sie weder für mich behalten noch jemandem anvertrauen kann.
Ich lese den Brief noch einmal. Die Sehnsucht weckende Morgenröte des ersten Kusses, verwirrend und gefährliches Lebenselixier, gegeben von einem Jüngling. Es steht da, mit blauer Tinte auf liniertem Papier geschrieben, genau wie: Sie liegt in der Anima, gräme dich also nicht, wenn du den Animus zärtlich begehrst.
Was heißt Anima überhaupt? Was Animus? Nur an den Endungen kann ich es als weiblich und männlich ausmachen und sehen, ich soll das Männliche zärtlich begehren und mich dessen
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