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wenn es Zeit ist

wenn es Zeit ist

Titel: wenn es Zeit ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Tietgen
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nicht grämen.
    Die Unruhe treibt mich zum Bücherregal ans Lexikon.
    ›Anima [die; lateinisch]
    - Philosophie: Seele; die Scholastik unterscheidet nach Aristoteles anima vegetativa, sensitiva und rationalis, gemäß den Körper-, Sinnes- und Verstandesfunktionen der Seele.‹
    In welcher Anima sitzt denn nun die Kraft? Das hilft mir nicht weiter.
    ›- Psychologie: bei C. G. Jung das unbewusste Urbild vom weiblichen Wesen, das dem Mann in seiner Persönlichkeitsentwicklung erscheint; entsprechend Animus bei der Frau.‹
    Das auch nicht. Es verwirrt mich nur noch mehr. Steckt die Kraft in meinem Urbild vom weiblichen Wesen? Wo nehme ich das her?
    › A|ni|mus [m. -; -mi] 1 Geist, Seele, Neigung, Gefühl 2 [scherzh.] Ahnung; einen A. haben, dass etwas geschieht [lat., ›Geist, Seele, Gefühl‹]
    Sind es Geist, Seele und Gefühl, die ich zärtlich begehre, die Ahnung von etwas? Habe ich nur in meiner Verwirrung nach Jans Kuss einen Hinweis in Omas Zeilen gelesen, ich sei pervers. Aber es bleibt doch ihr erster Satz. Könnte ich bloß jemanden fragen.
    »Was machst du gerade?« Meine Mutter klopft an meine Zimmertür, wartet nur kurz, bevor sie hereinkommt.
    »Nichts .«
    Sie setzt sich auf meinen Schreibtischstuhl. »Hast du es gewagt?«
    Ich nicke, falte vor ihren Augen den Brief zusammen, stehe auf, nehme mir ein Stück Klebefolie und klebe den Zettel wieder in den Deckel der Kiste. »Es waren nur Sprüche drin, kleine Gebete, wohl die Formeln, mit denen sie die Gäste in ihrem Zimmer behandelt hat.«
    »Mehr nicht?«
    »Ein Brief.« Die Kiste klappe ich wieder zu. Sie brennt nicht mehr in meiner Hand. Nur die Farben rasen immer noch wie aufgescheucht durcheinander.
    »Enttäuscht?«
    Ich klappe das Bett wieder zu, setze mich, bevor ich der Antwort ausweiche.
    »Es soll alles etwas mit Gott zu tun haben.« Nur die Formeln darf ich nicht weitergeben, steht in dem Brief. »Hat Oma über deine Flechte damals auch gepustet bei der Besprechung?«
    Ich kauere mich ans Kopfende meines Bettes, lehne mich mit dem Rücken an die Wand. Mama setzt sich zu mir und legt eine Hand auf mein Schienbein.
    »Jetzt, wo du fragst. Ich glaube, ja.«
    Ich schweige. Hoffentlich geht sie nicht. Es ist schön, wenn sie da ist. Es beruhigt mich, nimmt den Sturm aus meinen Gedanken, obwohl ich nicht weiß, worüber ich reden soll.
    »Sie schreibt ziemlich schlecht über Papa.« Er hat uns geschlagen, das Geld, mit dem er uns ernähren sollte, verspielt und letztlich eine Bank überfallen. Ist es da verwunderlich, wenn sie schlecht über ihn schreibt? Warum fällt mir gerade das ein?
    »Ja«, antwortet Mama. »Sie hat ihren Sohn gut erkannt.«
    »Sie hat ihn doch erzogen.«
    »Sie hat es wohl versucht. Aber irgendwann hat sie wahrscheinlich resigniert und ihn nur noch geliebt.«
    Wieder schweigen wir, Mama streichelt ganz leicht mein Schienbein, ich spüre ihren Blick auf mir, auch, wenn ich zum Bücherregal sehe.
    »Manchmal habe ich das Gefühl, sie hat ihn nicht geliebt, sondern verachtet. Vielleicht ist er deshalb so geworden?« Ich spreche leise und ohne Betonung, eher, als ob ich laut denke.
    »Sie hat ihn geliebt. Sie war nur so gottergeben, jedenfalls so, wie ich sie kennenlernte. Meine Eltern hatten die Moral der Kirche für sich. Gott spielte eine untergeordnete Rolle. Deshalb haben sie mich rausgeschmissen, als du unterwegs warst. Deine Oma hatte Gott, der stand für sie über der Moral. Das Böse gehörte für sie immer zu Gottes Plan. Ohne Judas hätte es für sie keine Erlösung gegeben, ohne seinen Verrat wäre Jesus nicht gekreuzigt worden, ohne die Kreuzigung gäbe es keine Auferstehung. Gott brauchte Judas, den Verräter. So hat sie auch deinen Vater betrachtet und versucht, die Vorsehung hinter seinem Wesen zu erkennen. Als ich dann in der Tür stand, schwanger von deinem Vater, handelte sie entsprechend. »Mein Sohn hat gesündigt, aber Gott hat etwas mit dem Kind vor. Sonst hätte er es nicht zugelassen.« Ich weiß nicht, ob sie auch schon so gedacht hat, als dein Vater klein war. Aber später hat sie immer nur den Scherbenhaufen hinter ihm aufgekehrt, die Konsequenzen mit ihm geteilt und uns so ihren Gott verleidet.«
    Mir schwirrt der Kopf. Ich bekomme eine Ahnung davon, was sie meinte, als sie schrieb: ›Der Vater, durch mich vom Herrn mit Leben beschenkt, ward deine erste Prüfung. Nicht achtend, womit er bedacht, konnte er dich nur die dunkle Seite lehren.‹
    Hatte ich die Armut, die Schläge, die eigene Gewalt

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