wenn es Zeit ist
gebraucht, damit mein Atem die Kraft bekommt? Nur eine wirre Ahnung, eher Fragen als Antworten und einen wirklichen Zusammenhang kann ich nicht erkennen. Aber Oma muss einen gesehen haben.
»Mir ist Gott bisher doch immer egal gewesen. Ich erinnere mich an Omas sonntägliche Kirchgänge und an die Geschichten, die die sie mir erzählt hat. Aber ich habe weder an ihn geglaubt, noch ihn, wie Papa, abgelehnt. Warum habe ich trotzdem die Kraft? Warum gerade ich?«
»Ich kann es dir nicht sagen.« Meine Mutter steht auf, streichelt mir noch einmal über den Kopf. »Ich wollte dir eigentlich nur eine gute Nacht wünschen.«
Ist da eine Träne auf ihrer Wange? Sie hat doch gar keinen Grund zu weinen.
Von Überspannung (1976)
Vom Garten gehe ich nackt und zitternd über den gefrorenen Boden. Der kalte Schlauch gleitet mir durch die Hand. Ich habe Gänsehaut und mein Penis ist so klein wie eine Haselnuss. Die Füße brennen, aber ich muss in den Keller, um an das Ende vom Schlauch zu kommen. Papa steht am anderen Ende und wartet, dass ich sein Gefäß fülle. Er hält seine Seele wie eine Schale unter den Hahn an seinem Ende des Schlauchs und dreht an der Armatur, flucht, schimpft und stampft auf dem Boden wie ein kleines Kind. »Ich will Erlösung!«, schreit er, »ich will endlich Erlösung. Hört mich denn niemand?«
Ich sehe ihn, obwohl ich weit fort auf meinem Weg, ihm den Rücken zugewendet habe, höre sein Flehen, habe Angst, panische Angst . Er wird mich schlagen, wenn ich ihn nicht erlöse. Er wird Mama schlagen, wenn ich ihn nicht erlöse, toben, brüllen, kämpfen.
In der offenen Tür zum Keller steht Jan, ein kleiner Jörg steckt in seinem Körper. Der Kopf in seinem Bauch, der Nabel des einen ist die Zunge des anderen und völlig verzerrt decken sich Augen und Brustwarzen. Sie leuchten blau und starren mich an. Ich will die Haselnuss verbergen, schäme mich, doch die Hände sind wie gefesselt. Als ich die Treppe hinunter gehen will, tritt Jan zur Seite und nimmt Jörg mit.
»Ich will Erlösung«, höre ich no ch immer die Rufe meines Vaters, während ich an Janjörg vorbeigehe. Sie folgen mir Stufe um Stufe bis zum Ende des Schlauchs, das lose auf dem Boden liegt. Janjörg bückt sich, reicht mir das Ende und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Hilflos starre ich die Kellerwände an, die Rufe meines Vaters als Echo in meinem Kopf. Ich suche einen Wasserhahn, irgendetwas, an das ich den Schlauch anschließen kann, aber Jan und Jörg halten ihre Hände vor den Mund und blasen hinein.
»Du musst pusten!«, fordern sie mich auf und Jan drückt mir den Schlauch an den Mund.
Es blähen sich nur meine Wangen und Lungen, der Strom meines Atems wird nicht aufgenommen. Als blase ich gegen einen Stein.
Jörg löst sich aus Jans Körper, sein Kopf ist weniger verzerrt, dafür hat er aufquellende Wunden und Hämatome am ganzen Körper. Auf einmal ist auch e r nackt. Er nimmt mir den Schlauch aus der Hand, steckt ihn durch meinen Körper und das Ende in meinen Mund. »Versuche es noch einmal!«
Es geht ganz leicht. Jan hat sich hinter mich gestellt, umarmt mich und streichelt meine Brust im Rhythmus meines Atems, der jetzt durch den Schlauch fließt. Am andern Ende sehe ich meinen Vater, weit entfernt, doch riesig. Er dreht, immer noch schreiend, an dem Hahn, ungeduldig, zeternd, zitternd. Der Schlauch bäumt sich auf wie eine Schlange, mein Atem macht ihn lebendig und an der Bewegung sehe ich, bald wird mein Hauch in die Schale meines Vaters fließen. Jörg löst sich auf. Zuerst verschwinden die Wunden, dann sein Gesicht, seine Arme und Beine, bis er nur noch ein dunkler Schatten ist, der von der Kellerwand aufgesogen wird.
Jan küsst meinen Nacken, hält mich fest, ich spüre seine Wärme, seine Brustwarzen an meinen Schulterblättern und seinen Penis an meinem Hintern.
Ich gehe die Kellertreppe wieder hoch, den Schlauch entlang, meinem Atem folgend zurück über den frostigen Boden zum Gartenhaus.
Milchig weiße Flüssigkeit tropft in die Schale meines Vaters, bis sie überläuft. Gierig reißt mein Vater die Schale zum Mund, trinkt einen Schluck und spuckt ihn brüllend wieder aus: »Bäh! Bist du pervers? Ich will Erlösung. Soll das Erlösung sein?« Wütend stapft er den Weg entlang zum Keller, ich schwebe in einigem Abstand hinter ihm her. Jan und Jörg erwarten ihn in der Kellerwand, beide nackt, beide mit erigiertem Penis, beide nicht umhüllt von dem blauen Nieselregen. Sie haben ihre Farbe
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