wenn es Zeit ist
verloren.
Mein Vater steht zwischen uns, dreht sich um zu mir. »Glotz die Jungen nicht so an!«, schreit er .
Ich schweige starr.
»Hast du gehört? Du sollst die Jungen nicht so anglotzen.«
Die Kälte spüre ich nicht mehr, die Haselnuss wächst, mein Vater spuckt darauf, dreht sich angewidert ab und stürzt auf Jörg zu, zerrt ihn am Hals aus der Wand und kreischt schrill: »Habe ich dich nicht schon entsorgt? Habe ich dir nicht schon gezeigt, was meinem Sohn blüht, wenn er sich in Kerle vergafft?« Ich stürze auf meinen Vater zu, eine Steinplatte in der Hand, hole aus, falle fast nach hinten von dem Gewicht, aber ich bin stark, ich habe Kraft. »Lass ihn in Ruhe!«, brülle ich, während ich die Steinplatte in Richtung seines Schädels bewege, schnell und doch, wie in Zeitlupe. Jörg flutscht meinem Vater aus den Händen, kriecht wieder in Jans Körper, doch er verzerrt sich nicht . Gemeinsam werden sie zur Oma, die aus der Wand mit aufgeplusterten Wangen gegen die Steinplatte pustet und wie ein grollendes Gewitter tobt. »Zerstöre nicht das Böse in dir, vernichte es nicht, sondern besieg es!«
Plötzlich ist es warm, kein Keller mehr, kein Garten , kein Frost. Ich liege zusammengekauert mit dem Daumen im Mund auf Jans Schoß, immer noch nackt, während er mir über den Körper bläst.
Von Ziellosigkeit (1976)
So früh stehe ich an Sonntagen selten auf. Um acht Uhr kann ich schon nicht mehr schlafen, wälze mich unruhig hin und her, mein Rücken schmerzt und keine Müdigkeit bindet mich noch ans Bett. Schon bevor ich unter die Dusche gehe, ist Jans Kuss wieder in meinen Gedanken, sein schamhaftes Verschwinden im Hauseingang, ohne mich noch einmal anzusehen oder mir zuzuwinken. Erst vor dem Spiegel denke ich wieder an meinen Niesel, der unverändert in allen Farben um mich schwirrt.
Unter dem heißen Wasserstrahl verfolgen mich mögliche Reaktionen, Glück wird zu Unglück, Unglück zu Glück, Fantasien zu Worten und Taten . So wie einem oft erst viel zu spät die schlagfertige Antwort auf etwas einfällt.
Kaffee koche ich mir nur, weil ich nicht weiß, was ich mit der Zeit anfangen soll, die mir die fehlende Ruhe geschenkt hat. Meine Mutter hat ihren Schlaf verdient. Ich muss leise sein. Hoffentlich dringt der Rauch meiner Zigarette nicht durch die Ritzen der Tür .
Ich nehme mir vor, endlich den Brief an meinen Vater zu schreiben, aber gleichzeitig erscheint es mir sinnlos, mit ihm zu sprechen. Er hat doch nur gelitten unter dieser Kraft. Was muss er fühlen, wenn ich ihm sage, dass ich sie auch besitze. Merkwürdigerweise stelle ich das gar nicht mehr infrage. Es bedrückt mich, wie meine Oma über meinen Vater dachte. Ich stelle mir vor, Mama würde derartig über mich denken. Gründe dazu hätte sie ja nach den Prügelaktionen in der Schule gehabt. Die dunkle Seite wirft einen Schatten auf unser Reich des Friedens, umso mehr, wie die helle Seite versucht, aus mir zu leuchten. So ist es mit den Schatten. Hätte Oma nicht auch ihren Sohn ins Licht holen müssen? Warum hat sie es nicht gekonnt? War es ihre dunkle Seite der Kraft, den Sohn zu opfern?
Ich rufe Michi an. Sie ist die Einzige, die ich an einem Sonntagmorgen so früh schon stören kann. Und sie bringt mich meistens auf andere Gedanken.
»Er hat mich geküsst«, eröffne ich das Gespräch. So verteile ich die Geheimnisse, eines an meine Mutter, das andere an Michi.
» Jan?«, fragt sie so frisch, als wäre es schon mittags. »Wann?«
»Gestern zum Abschied.«
»Und dann rufst du erst jetzt an? Ich sollte gleich wieder auflegen.« Michi atmet einmal ein und aus. Fast kann ich hören, wie sie die Stirn kräuselt, bevor sie fortfährt. »Wieso bist du eigentlich schon wach? Hat dich der Kuss so aus dem Rhythmus gebracht?«
»Ich habe mich ben ommen wie ein Idiot.« Je mehr ich ihr über den gestrigen Nachmittag berichte, um so weniger muss ich es von dem geöffneten Kistchen tun. Also erzähle ich. Von Würsten und Gewalt, von Toren, obwohl ich die doch nur an Jans Gesicht gesehen hatte, von Farben, von denen sie ohnehin schon weiß.
»Ich hatte also doch einen Grund zu r Eifersucht«, stellt sie fest.
Hat Michi jetzt auch ihren Niesel bekommen? Welche Farbe der wohl hat?
»Nein.« Ich würde ihr gern auch von den Fantasien erzählen, von der durch den Kuss erfüllten Sehnsucht, aber ich habe Angst, Mama wacht auf und kann mich hören.
»Ruf ihn an!«, fordert Michi mich auf. »Kläre, wie es gemeint war. Frage ihn, ob er
Weitere Kostenlose Bücher