wenn es Zeit ist
durch eine Wärmekamera oder ein Kaleidoskop.
»Hatte Oma das auch?«
»Gesagt hat sie nie etwas davon.« Mama seufzt. »Ich würde dir so gerne helfen. Aber ich verstehe noch nicht einmal, was du mir erzählst.«
»Meinst du , mein Vater könnte mir helfen?«
Sie drückt die halbe Zigarette aus, räumt das Geschirr zusammen und trägt es in die Küche. »Sprich mit ihm!«, sagt sie energisch, als sie wieder in den Wohnflur kommt. »Von mir aus kannst du ihn im Gefängnis besuchen. Aber ich werde ganz bestimmt nicht mitkommen.« Scheiße. Jetzt habe ich sie gekränkt.
Schweigend räumen wir die Lebensmittel in den Küh lschrank und waschen das wenige Geschirr ab.
Muss ich immer alles zerstören?
Von Sinn bestimmender Sehnsucht (1976)
In meinem Zimmer versuche ich, zu lesen, doch die Zeilen zerfließen in meinen Gedanken zu Brei. Der Inhalt bleibt irgendwo vor meinen Augen hängen. Ich habe Mama verärgert und Jan in Unsicherheit gelassen. Vielleicht sollte ich Michi anrufen und es mir mit ihr auch noch verderben? Diese blöden Farben sind an allem schuld, dieser blöde Atem, von dem Michi sich einbildet, er wäre etwas Besonderes. Kann ich nicht einfach ein ganz normaler Junge sein, der hin und wieder etwas ausfrisst, eine Ohrfeige dafür bekommt und danach ist alles wieder gut?
Wenn ich die Augen schließe, sehe ich Jan vor mir, den scheuen Kuss, und stelle mir vor, er wäre da, nähme mich in den Arm und hielte mich, gäbe mir die Kraft, die ich doch haben soll. Ob er hier übernachten würde, wenn ich ihn frage?
Wie soll es weitergehen? Wenn ich meinen Vater im Gefängnis besuche, ist Mama enttäuscht. Wann ist Jan enttäuscht? Wenn ich ihn bitte, mich nie wieder zu küssen oder wenn ich ihm sage, was der Kuss in mir ausgelöst hat? Was wird Michi sagen? Wird sie sich um die Zeit grämen, die ich sonst mir ihr verbracht hätte? Wird sie so eifersüchtig sein, wie sie es sich von mir gewünscht hätte? Was wird Mama sagen, wenn ich sie noch mehr enttäusche und ihr beichte, was ich für Jan empfinde? Und was sagen seine Eltern? Bestimmt werden sie ihm den Umgang mit mir verbieten, mir die Schuld an allem geben, mich in der Schule anschwärzen und ich werde zum Gespött von allen, bis ich um mich schlage und jemandem die Knochen breche. Aber ich weiß ja, wie ich sie heilen kann …
Vielleicht ist das die richtige Zeit. Werde ich spüren, wann es so weit ist, weil ich einfach nicht weiter weiß? Hat Oma das gemeint, als sie mir die Kiste gab? Was birgt sie für ein Geheimnis? Die Antwort? Kann mir der Inhalt den Besuch bei meinem Vater ersparen, mich vor der Freundschaft zu Jan retten und mir sagen, wie ich meine Wut beherrsche?
Ich stehe auf, klappe das Bett hoch, unter dem ich das Kästchen versteckt habe, seit der Verschluss kaputt gegangen ist, und hole es hervor.
Es fühlt sich immer noch warm an, kribbelt in der Hand. Mein Nieselregen wird um die Kiste herum heller, das Weiß leuchtet mehr, die kleinen Regenbogenpunkte glühen voller Kraft und der Wirbel tanzt um den Verschluss als könne er es gar nicht abwarten.
Vorsichtig hebe ich den Deckel an.
Zettel.
Abgerissene Notizpapiere, zusammengefaltet wie die Stimmzettel bei einer Klassensprecherwahl.
Ich nehme einen davon in die Hand, öffne ihn und versuche mühsam aus dem Sütterlin zu entziffern, was darauf geschrieben ist. Altdeutsche Schrift habe ich zwar in der Grundschule mal ein Jahr gelernt, aber danach nie wieder gebraucht.
› Wat ick seh, dat besteh, wat ick streiche, dat erweiche. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. – Dreimal wiederholen und dabei über die Stelle pusten.‹ [1]
Ohne ihn wieder zusammenzufalten, lege ich den Zettel neben mich und nehme mir einen neuen.
› Drei Rosen blühen in Gottes Garten, die erste verblüht, die zweite verbrennt, die dritte holt der Spaten. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen‹
Auch auf diesem Zettel die Aufforderung zur dreimaligen Wiederholung und zum Pusten. Hat Oma jemals etwas gemurmelt, wenn sie mir die Schmerzen und Sorgen aus dem Leben gepustet hat?
›De Asche und de Flechte flogen übers Meer. De Asche kam zurück, de Flechte nie mehr‹ Das Gebet im Anschluss ist immer gleich. Auch der Atem scheint wichtig zu sein.
Das ist also das Geheimnis von Großmutters Kiste. Ein paar Zettel mit Formeln, die ich mir bestimmt ni cht alle merken kann. Schlecht gereimte Gedichte. Und die habe ich jahrelang gehütet wie einen
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