wenn es Zeit ist
schaue, ob er mir vielleicht ausgewichen und an mir vorbeigegangen ist. Er sitzt nicht an seinem Platz.
Bestimmt schämt er sich. Ich hätte ihn anrufen sollen.
Stattdessen bin ich mit meiner Mutter an die Elbe gefahren, über die Deic he spaziert und habe die großen in der Sonne glitzernden Schiffe betrachtet, die Güter und Träume aus anderen Ländern brachten oder dorthin fuhren. Wir sind gelaufen, haben gegessen und den Tag vergessen, so gut es ging. Im Atem des Wassers gab es keine Oma, keinen Vater, nicht einmal Jan. Und wenn sie sich trotzdem in meinen Schädel schlichen, wurden sie durch die Nebelhörner der Frachter und Tanker vertrieben oder durch die Brise vom Wasser fortgepustet.
Wie verzweifelt muss Jan über seinen Mut sein , wie traurig, weil ich nicht reagiert habe, sondern einfach gegangen bin? Bestimmt malt er sich aus, ich werde ihn jetzt meiden, nie wieder etwas mit ihm unternehmen, sondern ihn hassen und verachten.
Dem Unterricht kann ich kaum folgen. Der Lehrer öffnet ein Fenster, die Vorhänge wehen im leichten Luftzug. Die Tür des Klassenzimmers klappt leicht, nur hörbar, auf und zu.
Eine klappende Tür, doch niemand kommt. Ein Windzug vielleicht. Ein grauer Schatten stellt sich zu mir unter die Dusche, kriecht in meine Seele, legt sich über mein Gemüt.
Ich zucke zusammen, starre auf das offene Fenster, dann auf die Tür, warte, dass sie sich öffnet und …
Der graue Niesel löst sich auf, fließt dorthin, wohin die gelben Punkte nie verschwanden: in den Abfluss.
»Wovon träumst du gerade, Henrik?«
Erneutes Aufschrecken. Nur langsam nehme ich den Lehrer wahr. Hat er mir eine Frage gestellt?
Das Gesicht meines Vaters, höhnisch grinsend. ›Vermisst du deinen Freund, du perverse Sau?‹
Blut in meinem Kopf. Der Lehrer klopft ungeduldig mit den Fingern auf sein Pult.
»Verzeihung«, murmele ich, setze mich auf. Ein Stich aus der Wirbelsäule, ich kann das wilde Schütteln meines Kopfes nicht verhindern. Die Klasse lacht.
»Ist dir nicht gut?«
»Doch, es ist alles in Ordnung«, stammle ich, als ob mein Unterkiefer gelähmt ist.
»Dann können wir ja weiter machen.« Er wiederholt seine Frage. Woher weiß ich die Antwort? Jedenfalls sage ich sie ihm.
In der Pause sehe ich Dirk bei einem aus Pullovern gelegten Tor stehen und gehe zu ihm.
»Ich dachte, du inter essierst dich nicht für Fußball?«
Dirk sieht auf. »Ich spiele nicht mit, ich stehe nur im Weg.«
»Ach so.« Ich warte, bis er von seinem Brot abgebissen hat. »Ist Jan krank?«
›Willst du vorbeikommen und ihn gesund küssen?‹, fragt er breit grinsend und mit dem Gesicht meines Vaters.
»Er sagt es zumindest. Fieber hat er nicht. Aber meine Mutter meinte, wenn er sich nicht fühle, könne er zu Hause bleiben.«
Er kann doch nicht jeden Tag fehlen. Irgendwann wird er mir begegnen müssen, es sein denn, er wechselt die Schule.
»Was hast du mit ihm gemacht?«
›Bist du ein Perverser?‹
»Nichts«, antworte ich. »Was sollte ich mit ihm gemacht haben?«
»Er ist schon so komisch, seit ihr beim Fußball wart, versteckt sich den ganzen Tag in seinem Zimmer und kommt nur zum Essen raus.«
Ich zucke mit den Schultern. Eine schwache Geste für einen Sturm. Was soll ich Dirk sagen? ›Du bist schuld, Henrik. Du magst ihn und hast ihm erlaubt, dir zu nahe zu kommen.‹
Die Meute kommt auf uns zu. Einer treibt den Ball zu den Pullovern. Das Tor ist klein, auf dem rauen Asphalt des Schulhofs kann sich niemand hinschmeißen. Also spielen sie ohne Torhüter.
»Meinst du, ich sollte ihn nach der Schule besuchen?«
Jetzt ist es Dirk, der die Schultern zuckt. »Vielleicht.«
›Hast du doch etwas mit ihm gemacht oder warum hast du ein schlechtes Gewissen?‹
Jubel und Flüche. Einer der Schüler läuft hinter dem Ball her, holt ihn zurück.
»Wann hast du Schluss?«, frage ich Dirk. »Oder kann ich einfach unangemeldet bei euch auftauchen?«
»Besser nicht. Ich habe heute fünf Stunden.«
»In Ordnung.« Ich muss dafür zwei Stunden schwänzen, aber das ist mir egal. Wir verabreden uns am Schuleingang.
Bis auf zwei Dinge ist alles wie beim ersten Besuch. Dieses Mal ist es Jan, der im Bademantel am Küchentisch sitzt und statt Gulasch gibt es Frikadellen mit Erbsen, Möhren und Salzkartoffeln.
Die Küche ist so sauber wie beim letzten Mal, die Einnahme der Mahlzeit , nach dem Tischgebet, genauso schweigsam. Auch ich traue mich nicht, zu reden. Nach der ersten Frikadelle bin ich satt, versuche,
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