Wenn Frauen zu sehr lieben

mit der Zeit offensichtlich wird, dass etwas sehr Zerstörerisches im Gange ist, werden dennoch häufig nur die körperlichen Symptome wahrgenommen und behandelt – beim Alkoholiker vielleicht Funktionsstörungen der Leber oder Bauchspeicheldrüse, bei der beziehungssüchtigen Frau Schlafstörungen oder zu hoher Blutdruck – aber der Gesamtzustand bleibt unberücksichtigt. Es ist jedoch unbedingt erforderlich, die verschiedenen Symptome in ihrem Zusammenhang zu erfassen, ihre Ursachen herauszufinden, die Krankheit im frühestmöglichen Stadium zu diagnostizieren, damit der fortschreitenden Zerstörung von seelischer und körperlicher Gesundheit Einhalt geboten werden kann.
    Die Parallelen zwischen den Krankheitsverläufen von Alkoholismus und «Zu-sehr-Lieben» werden in den folgenden Tabellen (S.  286 ff.) verdeutlicht. Beide Tabellen zeigen, wie Abhängigkeit – ob von einer bewusstseinsverändernden Chemikalie oder einer unglücklichen Beziehung – letztlich das gesamte Leben in Mitleidenschaft zieht. Zunächst sind die Auswirkungen seelischer, dann körperlicher Natur; sie betreffen auch andere Menschen (Kinder, Nachbarn, Freunde, Kollegen); bei der beziehungssüchtigen Frau treten zudem häufig noch andere Krankheiten wie Ess-, Arbeitssucht oder Kleptomanie auf. Die Tabellen veranschaulichen auch die Parallelen beim Genesungsprozess drogen- und beziehungsabhängiger Menschen. Ich möchte noch einmal betonen, dass die Tabelle
«Alkoholabhängigkeit: Erkrankungsprozess und Genesung»
wahrscheinlich eher für männliche Alkoholiker und die Tabelle
«Zu-sehr-Lieben»: Erkrankungsprozess und Genesung
eher für Frauen repräsentativ ist – wenn es auch, wie eingangs erwähnt, durchaus Männer gibt, die zu sehr lieben. Die Abweichungen aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit sind allerdings nicht sehr groß, wie Sie vielleicht schon beim Betrachten der Tabellen feststellen können, und es würde an dieser Stelle zu weit führen, sie in allen Einzelheiten zu untersuchen. Hier soll vor allen Dingen noch einmal verdeutlicht werden, wie Frauen, die zu sehr lieben, krank werden und wie sie gesund werden können.
    Margos Geschichte ist nicht aus dieser Tabelle entnommen, und diese Tabelle wurde auch nicht entworfen, um ihre Geschichte zu veranschaulichen. Aber Margo durchlief – mit wechselnden Partnern – genau dieselben Stadien der Krankheit «Zu-sehr-Lieben» wie andere Frauen mit einem einzigen Partner. Wenn nun Beziehungssucht eine mit Alkoholismus vergleichbare Krankheit ist, dann sind auch ihre einzelnen Stadien gleichermaßen feststellbar, und ihr Verlauf ist genauso vorhersehbar.
    Das folgende Kapitel behandelt die in der Tabelle aufgeführten Genesungsschritte im Einzelnen, aber zunächst will ich mich noch einmal mit den Gefühlen und Verhaltensweisen beschäftigen, die – laut Tabelle – Merkmale dieser Krankheit in ihren verschiedenen Stadien sind.
    Wie jede der in diesem Buch vorgestellten Geschichten zum Ausdruck bringt, stammen Frauen, die zu sehr lieben, aus Familien, in denen sie entweder sehr einsam und isoliert waren oder abgelehnt wurden oder überlastet waren mit unangemessen hoher Verantwortung; daher stammt ihre stark fürsorgliche, aufopferungsvolle Haltung; oder sie waren einem solch bedrohlichen Chaos ausgesetzt, dass sich in ihnen das massive Bedürfnis herausbildete, Menschen und Situationen zu kontrollieren. Eine Frau, die das Verlangen hat, zu bemuttern oder zu kontrollieren oder beides zu tun, kann dieses Bedürfnis natürlich nur bei einem Partner ausleben, der ein solches Verhalten zulässt, wenn nicht sogar herausfordert. Sie wird sich also unvermeidlich mit einem Mann zusammentun, der zumindest in einigen wesentlichen Lebensbereichen verantwortungslos ist: Er braucht ihre Hilfe, ihre Fürsorge, ihre Kontrolle. Und so beginnt ihr Kampf, ihr unermüdlicher Versuch, ihn durch die Stärke und Überzeugungskraft ihrer Liebe zu verändern.
    Schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt lässt sich erahnen, von welchem Wahn die Beziehung später beherrscht sein wird: wenn nämlich die Frau beginnt, die Realität dieser Beziehung zu leugnen. Wie an anderer Stelle bereits ausgeführt, ist Verleugnung ein unbewusster Mechanismus, der sich automatisch, ungewollt einstellt. Ihr Traum davon, wie es sein könnte, und ihre Anstrengungen, das ersehnte Ziel zu erreichen, verzerren ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit. Jede Enttäuschung, jeder Misserfolg, jeder Verrat in der Beziehung wird entweder