Wenn Frauen zu sehr lieben
Zeit über führte sich mein Vater schrecklich auf. Er war gemein zu meiner Mutter und verspielte all unser Geld. Obwohl er als Ingenieur nicht schlecht verdiente, hatten wir nie etwas davon und mussten ständig umziehen.
Wissen Sie, dieses kleine Gedicht beschreibt viel mehr, wie es hätte sein sollen, als wie es wirklich war. Ich fange erst jetzt allmählich an, das zu begreifen. Früher habe ich mir immer gewünscht, meine Mutter wäre wie die Mutter in dem Gedicht, aber meistens konnte sie diesem Ideal nicht einmal ein Stück weit entgegenkommen, weil sie betrunken war. Schon sehr früh begann ich, sie mit all meiner Liebe, Hingabe und Energie zu überschütten, und hoffte dabei, das zurückzubekommen, was ich von ihr brauchte – also genau das, was ich ihr gab.» Lisa machte eine Pause. Ihre Augen waren feucht. «Mit Hilfe der Therapie habe ich all das erkannt, und manchmal tut es mir sehr weh, den Tatsachen ins Auge zu sehen und mir nicht länger etwas vorzumachen.
Meine Mutter und ich standen uns wirklich nahe, aber sehr früh – so früh, dass ich mich an den Zeitpunkt nicht mehr erinnern kann – begann ich, mich zu verhalten, als sei ich die Mutter und sie das Kind. Ich machte mir Sorgen um sie und versuchte, sie vor meinem Vater zu beschützen. Ich dachte mir immer etwas aus, um sie aufzuheitern. Ich bemühte mich mit aller Kraft, sie glücklich zu machen, denn sie war ja alles, was ich hatte. Ich wusste, dass ich ihr etwas bedeutete, denn oft bat sie mich, zu ihr zu kommen und mich neben sie zu setzen. Und dann saßen wir lange Zeit einfach nur da, aneinandergekuschelt, ohne besonders viel zu reden. Wenn ich jetzt daran denke, ist mir klar, dass ich immer Angst um sie hatte, dass ich immer damit rechnete, etwas Fürchterliches würde passieren, etwas, das ich eigentlich hätte verhindern können, wenn ich nur achtsam genug gewesen wäre. So aufzuwachsen ist schon hart, aber etwas anderes habe ich nie kennengelernt. Und es hinterließ natürlich seine Spuren. Als Teenager litt ich phasenweise an schweren Depressionen.»
Lisa lachte auf. «Was mir an den Depressionen vor allem Angst machte, war die Tatsache, dass ich mich in dieser Verfassung nicht besonders gut um meine Mutter kümmern konnte. Sie sehen also, ich war sehr gewissenhaft … Ich fürchtete mich davor, sie loszulassen, selbst für kurze Zeit. Der einzige Weg, es dennoch zu tun, bestand darin, mich an jemand anderen zu klammern.»
Sie schenkte Tee nach. «Als ich neunzehn war, hatte ich die Gelegenheit, zusammen mit zwei Freundinnen nach Mexiko zu reisen. Es war das erste Mal, dass ich meine Mutter alleinließ. Wir wollten drei Wochen bleiben. In der zweiten Woche lernte ich einen Mexikaner kennen, der toll aussah. Er konnte sehr gut Englisch und war sehr aufmerksam zu mir, ja fast ritterlich. Während meiner dritten Urlaubswoche bat er mich täglich, ihn zu heiraten. Er sagte, er würde mich lieben und könnte den Gedanken nicht ertragen, ohne mich zu sein – jetzt, wo er mich gerade erst gefunden hätte. Ein besseres Argument hätte es für mich kaum geben können. Ich meine, er sagte damit, dass er mich brauchte, und alles in mir war dafür empfänglich, gebraucht zu werden. Außerdem wurde mir immer klarer, dass ich mich eines Tages von meiner Mutter lösen musste. Zu Hause war es immer nur düster, trübselig und hart. Und dieser Mann versprach mir nun ein wunderschönes Leben. Seine Familie war wohlhabend. Er hatte eine gute Ausbildung hinter sich. Ganz offensichtlich ging er keiner Arbeit nach, aber der Reichtum seiner Familie schien mir dafür eine ausreichende Erklärung zu sein. Dass ein Mann, dem so viel Geld zur Verfügung stand, trotzdem glaubte, mich zu brauchen, um glücklich zu sein – das konnte doch nur eines bedeuten: ich war tatsächlich etwas wert.
Ich rief meine Mutter an und schilderte ihn ihr in den leuchtendsten Farben. Sie sagte: ‹Ich vertraue deiner Fähigkeit, die richtigen Entscheidungen zu treffen.› Das hätte sie allerdings nicht tun sollen. Ich entschloss mich, ihn zu heiraten, und das war eindeutig ein Fehler.
Wissen Sie, mit meinen eigenen Gefühlen kannte ich mich überhaupt nicht aus. Ich wusste nicht, ob ich ihn liebte oder ob er das war, was ich wollte. Ich wusste nur, dass es endlich jemanden gab, der sagte,
er
würde
mich
lieben. Ich hatte fast keine Erfahrung mit Männern, denn ich war immer zu sehr damit beschäftigt gewesen, mich um meine Familie zu kümmern. Innerlich war ich ganz
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