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Wenn Frauen zu sehr lieben

Wenn Frauen zu sehr lieben

Titel: Wenn Frauen zu sehr lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Norwood
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eben nicht genügend anstrengen. Die wussten ja nicht, wie sehr ich mich anstrengte, zu Hause alles zusammenzuhalten. Aber meine Zeugnisse waren nicht gut. Meinen Vater brachte das zum Brüllen und meine Mutter zum Weinen. Ich fühlte mich schuldig, weil ich nicht perfekt war. Und ich strengte mich noch mehr an.»
    Hochgradig dysfunktionale Familien wie diese, in denen es offensichtlich unüberwindbare Schwierigkeiten gibt, konzentrieren sich häufig auf andere, einfachere Probleme, die lösbar erscheinen. In diesem Fall waren es Lisas schulische Leistungen, auf die sich die Aufmerksamkeit von allen, einschließlich Lisa, richtete. Die gesamte Familie wollte und musste glauben, dass die Bewältigung dieses und ähnlicher Probleme endlich die ersehnte Harmonie bringen würde.
    Lisa stand unter großem Druck. Sie versuchte nicht nur, die Probleme ihrer Eltern zu lösen, während sie sich gleichzeitig die Pflichten ihrer Mutter aufbürdete, sondern wurde auch noch als eine der
Ursachen
für das familiäre Elend angesehen. Und weil diese Belastung insgesamt viel zu hoch war, konnte sie niemals Erfolge erleben, trotz all ihrer Anstrengungen. Natürlich litt ihr Selbstwertgefühl sehr darunter.
    «Eines Tages rief ich meine beste Freundin an und sagte zu ihr: ‹Bitte lass mich reden. Wenn du willst, kannst du ein Buch dabei lesen. Du brauchst mir nicht zuzuhören. Ich möchte nur, dass jemand am anderen Ende der Leitung ist.› Ich dachte allen Ernstes, ich würde es noch nicht einmal verdienen, dass sich jemand meine Probleme anhörte! Aber natürlich tat sie das. Ihr Vater war ein trockener Alkoholiker, der zu den A. A.-Meetings ging. Sie besuchte eine Alateen-Gruppe [1] , und ich glaube, schon allein die Art, wie sie zuhören konnte, war ein Erfolg dieses Programms. Es fiel mir sehr schwer, zuzugeben, dass es in meiner Familie Probleme gab, an denen mein Vater keine Schuld trug. Denn ihn hasste ich wirklich.»
    Ein paar Minuten lang schwiegen wir beide. Lisa kämpfte offensichtlich gegen die aufkommenden, bitteren Kindheitserinnerungen an. Als sie endlich weitersprechen konnte, sagte sie leise: «Mein Vater verließ uns, als ich sechzehn war. Damals lebte meine Schwester schon nicht mehr bei uns. Sie war drei Jahre älter als ich. Sobald sie achtzehn geworden war, fand sie eine Arbeitsstelle und zog aus. Damit blieben nur meine Mutter, mein Bruder und ich übrig. Ich wollte meine Mutter glücklich machen, ihr Sicherheit geben und mich um meinen Bruder kümmern; aber unter dem Druck dieser Aufgaben brach ich fast zusammen. So ging ich nach Mexiko, heiratete, kam zurück, ließ mich scheiden und trieb mich dann jahrelang mit einem Haufen von Männern herum.
    Etwa fünf Monate, nachdem meine Mutter ihr A. A.-Programm aufgenommen hatte, lernte ich Gary kennen. Bei unserem ersten Treffen war er high. Meine Freundin, die ihn schon länger kannte, lud uns beide zu einer Spazierfahrt ein, und dabei rauchte er einen Joint. Er mochte mich, ich mochte ihn, und wir beide gaben dies – unabhängig voneinander – meiner Freundin zu verstehen. Kurze Zeit später rief er tatsächlich an und besuchte mich. Ich ließ ihn eine Weile Modell sitzen und zeichnete eine kleine Skizze von ihm. Ich weiß noch, plötzlich wurde ich von einem ungeheuer starken Gefühl für ihn überwältigt. So etwas hatte ich einem Mann gegenüber noch nie empfunden.
    Auch diesmal war er high. Er saß einfach da und redete langsam – so wie man eben redet, wenn man Marihuana geraucht hat –, und ich musste mit dem Zeichnen aufhören, weil meine Hände auf einmal so stark zitterten, dass ich nicht mehr arbeiten konnte. Ich stellte meinen Skizzenblock auf und versteckte die Hände dahinter, damit er nicht sehen konnte, dass sie zitterten.
    Heute weiß ich, dass ich auf ein ganz bestimmtes Merkmal reagiert habe: Er redete genauso, wie es meine Mutter tat, wenn die den ganzen Tag getrunken hatte. Dieselben langen Pausen und sorgfältig gewählten, überdeutlich ausgesprochenen Worte. All die Gefühle von Liebe und Fürsorge meiner Mutter gegenüber verbanden sich mit der körperlichen Anziehungskraft dieses Mannes, der tatsächlich sehr gut aussah. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung, was meine Reaktion bedeutete, also hielt ich sie – natürlich – für Liebe.»
    Es war kein Zufall, dass Lisa sich so bald nach dem Alkoholentzug ihrer Mutter in Gary verliebte und eine Beziehung mit ihm einging, die sechs Jahre dauern sollte. Die Bindung

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