Wenn Frauen zu sehr lieben
uns ausschließlich mit Wünschen und Ansprüchen anderer zu beschäftigen, statt anzuerkennen, dass wir selbst Angst, Schmerzen und ungestillte Bedürfnisse hatten. Bei jeder Gelegenheit gaben wir vor, schon so erwachsen zu sein, für so vieles zuständig zu sein und so wenig zu beanspruchen, dass es uns nun zu spät dafür scheint, selbst einmal an die Reihe zu kommen. Und so helfen wir immer weiter und hoffen dabei, dass unsere Angst verschwindet und wir durch Liebe belohnt werden.
Melanies Geschichte ist ein charakteristisches Beispiel dafür, wie durch zu schnelles Erwachsenwerden, verbunden mit zu viel Verantwortung, das zwanghafte Bedürfnis entstehen kann, andere zu versorgen.
Bei einem Vortrag, den ich vor einer Gruppe von Krankenpflegeschülern hielt, erregte Melanie meine Aufmerksamkeit. Mir fielen die Kontraste in ihrem Gesicht auf. Einerseits wirkte sie sehr lebhaft, fast spitzbübisch mit ihrer kleinen, sommersprossigen Stupsnase und den tiefen Grübchen – andererseits hatte sie dunkle Ringe unter den klaren grauen Augen. Die kastanienfarbenen Haare fielen ihr in die Stirn. Sie sah aus wie eine blasse, müde Fee.
Während ich noch mit Schülern sprach, die nach meinem Vortrag dageblieben waren, stand sie an der Seite und wartete. Wie so oft, wenn ich über das Thema «Alkoholismus als Familienkrankheit» referierte, wollten auch diesmal einige Schüler persönliche Angelegenheiten mit mir besprechen.
Als der letzte von Melanies Mitschülern gegangen war, gönnte sie mir zunächst eine kleine Atempause, bevor sie sich vorstellte. Ihr Händedruck war fest. Das hätte ich bei jemandem, der so schmächtig und zart war wie sie, nicht erwartet.
Sie hatte so lange und geduldig darauf gewartet, mit mir zu sprechen, dass ich trotz ihres selbstsicheren Auftretens vermutete, mein morgendlicher Vortrag habe tief in ihr etwas berührt. Um ihr die Gelegenheit zu einem längeren Gespräch zu geben, forderte ich sie auf, mich bei einem Spaziergang über den Campus zu begleiten. Es kam zu einem lebhaften, aber oberflächlichen Gespräch, während ich meine Unterlagen zusammensuchte und wir den Vortragssaal verließen, doch als wir draußen auf dem Gelände waren, wurde sie plötzlich nachdenklich.
Es war ein grauer Novembertag, und wir gingen einen verlassenen Weg entlang. Das einzige Geräusch war das Knistern der Platanenblätter unter unseren Füßen.
Melanie blieb stehen, um diese sternförmigen, zerfurchten Blätter zu betrachten, deren spitze Enden sich wie getrocknete Seesterne hochbogen und dabei ihre fahle Unterseite entblößten. Nach einer Weile sagte sie leise: «Meine Mutter war keine Alkoholikerin, aber danach zu urteilen, wie sich diese Krankheit auf eine Familie auswirkt, hätte sie gut eine sein können. Sie litt an schweren Depressionen, war oft im Krankenhaus und blieb manchmal lange Zeit weg. Die Medikamente, die sie einnehmen musste, um ‹gesund› zu werden, schienen sie nur noch kränker zu machen. Aus einer lebhaften, überdrehten Frau wurde allmählich eine völlig benommene Frau. Trotz dieser anhaltenden Benommenheit gelang schließlich einer ihrer Selbstmordversuche. Obwohl wir uns bemühten, sie niemals allein zu lassen, waren wir gerade an diesem Tag für kurze Zeit alle aus dem Haus gegangen. Sie erhängte sich in der Garage. Mein Vater hat sie gefunden.»
Sie schüttelte ganz schnell den Kopf, als wolle sie die düsteren Erinnerungen vertreiben, die dort noch immer nisteten, und fuhr fort. «Mit vielem, was ich heute Morgen gehört habe, konnte ich mich identifizieren, aber Sie sagten in Ihrem Vortrag auch, dass Kinder von Alkoholikern oder aus anderen dysfunktionalen Familien sich sehr oft Partner aussuchen, die selbst alkoholkrank oder von anderen Drogen abhängig sind, und das trifft auf Sean nicht zu. Gott sei Dank macht er sich nicht viel aus Alkohol oder Marihuana. Dafür haben wir andere Probleme.» Sie wandte sich von mir ab und hob das Kinn.
«Eigentlich habe ich alles ganz gut im Griff –» ihr Kinn senkte sich wieder –, «aber langsam macht es mich fertig.» Dann sah sie mich direkt an, lächelte und zuckte die Achseln. «Mir geht allmählich das Essen, das Geld und die Zeit aus – das ist alles.» Sie sagte das, als handle es sich um die Pointe eines Witzes, auf die man nur amüsiert, aber nicht ernsthaft reagieren könne. Ich musste nachbohren, um weitere Einzelheiten zu erfahren.
«Sean ist wieder einmal fort. Wir haben drei Kinder; Susie ist sechs, Jimmy
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