Wenn Frauen zu sehr lieben
Hause kommt, genauso, wie ich früher auf meinen Vater gewartet habe, wenn der weg war –, und mir wird klar, dass ich Sean nie zur Rede stelle für das, was er zu verantworten hat. Wenn er weggeht, dann ist das für mich wie damals, als mein Vater weggegangen ist, um Geld für die Familie zu verdienen, um also für uns zu sorgen. Ich weiß zwar, dass es bei Sean etwas ganz anderes ist, aber mein Gefühl sagt mir trotzdem dasselbe: ich muss eben das Beste aus der Situation machen.»
Sie brach ab und dachte über weitere Parallelen nach. «Ich bin eigentlich immer noch die tapfere kleine Melanie, die alles zusammenhält, die im Topf rührt und sich um die Kinder kümmert.» Eine plötzliche Erkenntnis trieb ihr das Blut in die Wangen. «Also stimmt es doch, was Sie in Ihrem Vortrag über Kinder wie mich gesagt haben. Wir suchen uns tatsächlich eine Beziehung, in der wir dieselbe Rolle spielen können wie damals in unserer Familie!»
Als wir uns verabschiedeten, umarmte mich Melanie und sagte: «Danke fürs Zuhören. Ich glaube, ich musste einfach ein bisschen darüber reden. Und ich verstehe jetzt einiges besser; aber ich bin nicht bereit, einen Schlussstrich zu ziehen – noch nicht!» Ihre Stimmung war offensichtlich besser, als sie mit hochgerecktem Kinn sagte: «Außerdem muss Sean einfach mal erwachsen werden. Und das wird er auch. Er muss es ja schließlich, finden Sie nicht?»
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und ging mit großen Schritten den Weg zurück.
Melanie hatte tatsächlich einige Erkenntnisse über sich selbst gewonnen, aber viele weitere Parallelen zwischen ihrer Kindheit und ihrem gegenwärtigen Leben waren ihr noch immer nicht bewusst.
Warum sollte eine intelligente, attraktive, tatkräftige und tüchtige junge Frau wie Melanie eine Beziehung brauchen, die so sehr mit Kummer und Leid belastet war wie ihre Ehe mit Sean? Für sie gilt, was auch auf all die anderen Frauen zutrifft, die in zutiefst unglücklichen Familien aufgewachsen sind, in denen die seelischen Belastungen zu hoch und die Verantwortung zu groß waren: Diese Frauen können nicht mehr unterscheiden, was sie als gut und was sie als schlecht empfinden; beide Gefühle sind so unlösbar miteinander verknüpft, dass sie irgendwann als Einheit erlebt werden.
In Melanies Familie konnte von elterlicher Zuwendung kaum die Rede sein, da das Leben durch die immer weiter zerfallende Persönlichkeit ihrer Mutter und die Bemühungen aller, damit fertig zu werden, ohnehin kaum mehr zu bewältigen war. Ihre tapferen Anstrengungen, den Haushalt zu führen, wurden mit der dankbaren Abhängigkeit ihres Vaters belohnt; nach Melanies Erfahrung kam diese Abhängigkeit dem Geliebtwerden am nächsten. Empfindungen von Angst und Überlastung, wie sie für ein Kind unter solchen Lebensumständen normal wären, wurden von den Erfolgsgefühlen überschattet, die sie aus der Hilfsbedürftigkeit ihres Vaters und der Unzulänglichkeit ihrer Mutter bezog. Es muss ein berauschendes Gefühl für ein Kind sein, wenn es für stärker als ein Elternteil gehalten wird und dazu noch für unentbehrlich! Die Rolle, die Melanie in ihrer Kindheit eingenommen hatte, prägte ihre Identität. Sie sah sich gewissermaßen als Retter, glaubte, sie könne sich über alle Schwierigkeiten und das Chaos hinwegsetzen und kraft ihres Mutes, ihrer Stärke und ihres unbeugsamen Willens auch noch die Menschen um sie herum «retten».
Dieser Retterkomplex ist schädlicher, als man zunächst vermutet. Es ist sicher eine beachtliche Leistung, in einer Krise Stärke zu beweisen; aber Melanie brauchte wie andere Frauen mit ähnlicher Familiengeschichte diese Krisen, um ihr Leben überhaupt bewältigen zu können. Hätte sie sich nicht ständig in Stress, Aufruhr und Verzweiflung begeben, wären die vergrabenen Kindheitsgefühle von seelischer Überforderung an die Oberfläche getreten und für sie zu bedrohlich geworden. Als Kind war Melanie gleichzeitig der Beistand ihres Vaters und Ersatzmutter für die Geschwister. Aber sie war auch ein Kind, das elterliche Fürsorge brauchte, und da die Mutter aufgrund ihrer seelischen Verfassung dazu nicht in der Lage und der Vater zu selten verfügbar war, wurde diesem Bedürfnis nicht entsprochen. Die Geschwister hatten immerhin eine Melanie, die sie bemutterte. Melanie hatte niemanden. Sie war nicht nur ohne Mutter, sie musste auch noch lernen, wie eine Erwachsene zu denken und zu handeln. Sie hatte nie die Gelegenheit, ihre
Weitere Kostenlose Bücher