Wenn Frauen zu sehr lieben
eigene Angst zum Ausdruck zu bringen. Mit der Zeit gewöhnte sie sich daran, keine emotionalen Ansprüche zu stellen und sich dabei wohl zu fühlen.
Wenn sie sich und anderen nur stark genug einredete, erwachsen zu sein, konnte sie tatsächlich vergessen, dass sie im Grunde ein verängstigtes Kind war. Bald kam Melanie nicht nur gut mit chaotischen Situationen zurecht, sondern war sogar auf sie angewiesen, um überhaupt zu funktionieren. Die Belastungen, die sie auf sich nahm, halfen ihr dabei, ihre eigene Angst, ihre eigenen Schmerzen zu unterdrücken. Was schwer auf ihr lastete, entlastete sie also gleichzeitig emotional.
Sie trug eine Verantwortung, die die Fähigkeiten eines Kindes fast überschritt, aber genau daraus entstand Melanies Selbstwertgefühl. Anerkennung erlangte sie, indem sie hart arbeitete, sich um andere kümmerte und ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse denen der anderen unterordnete. So wurde Märtyrertum zu einem Bestandteil ihrer Persönlichkeit und trug neben dem Retterkomplex dazu bei, dass Melanie eine magnetische Anziehungskraft auf Menschen ausübte, die ständig in Schwierigkeiten waren, Menschen wie Sean. Die ungewöhnlichen Lebensumstände ihrer Kindheit steigerten auf gefährliche Weise, was unter herkömmlichen Bedingungen normale Gefühle und Reaktionen gewesen wären. An dieser Stelle möchte ich kurz einige wichtige psychische Aspekte der kindlichen Entwicklung aufgreifen, um ein besseres Verständnis für die Kräfte zu ermöglichen, die in Melanies Leben eine so große Rolle spielten.
Kinder, die in einer Kernfamilie aufwachsen, entwickeln ganz natürliche, oft sehr starke Wünsche, den gleichgeschlechtlichen Elternteil loszuwerden, um den geliebten gegengeschlechtlichen Elternteil ganz für sich allein zu haben. Kleine Jungen wünschen sich von ganzem Herzen, der Vater möge endlich verschwinden, damit sie die gesamte Liebe und Aufmerksamkeit ihrer Mutter auf sich ziehen können. Und kleine Mädchen träumen davon, den Platz der Ehefrau neben dem Vater einzunehmen. Die meisten Eltern haben von ihren kleinen Kindern «Anträge» erhalten, die diese Sehnsucht ausdrücken. Ein vierjähriger Junge sagt beispielsweise zu seiner Mutter: «Wenn ich einmal groß bin, dann heirate ich dich.» Oder ein dreijähriges Mädchen sagt zu ihrem Vater: «Papa, ich will mit dir in einem Haus zusammenwohnen, aber ohne Mama.» Diese ganz normalen Sehnsüchte spiegeln einige der stärksten Gefühle wider, die ein kleines Kind überhaupt erlebt. Sollte dem beneideten Rivalen jedoch tatsächlich etwas zustoßen, was diesem Elternteil schadet oder ihn sogar dauerhaft von der Familie trennt, können die Folgen für das Kind verheerend sein.
Wenn die Mutter in einer solchen Familie an geistiger Verwirrung oder an einer anderen schweren chronischen Krankheit leidet, wenn sie alkohol- oder drogenabhängig ist (oder aus sonstigen Gründen körperlich oder geistig nicht verfügbar), dann wird fast ausnahmslos die Tochter (bei mehreren Töchtern meistens die älteste) dazu ausersehen, den Platz einzunehmen, der durch die Krankheit oder Abwesenheit der Mutter frei geworden ist.
Melanies Geschichte ist ein gutes Beispiel für die Folgen, die eine solche «Berufung» für ein junges Mädchen mit sich bringt. Melanie fiel die Position des weiblichen Haushaltsvorstandes zu, weil sich der Zustand ihrer Mutter immer weiter verschlechterte. Während der Jahre, in denen sich ihre eigene Identität herausbildete, war sie für ihren Vater eher die Partnerin als die Tochter. Bei der Bewältigung der häuslichen Probleme arbeiteten sie als Team zusammen. In gewissem Sinne hatte Melanie ihren Vater ganz für sich allein, denn ihre Beziehung zu ihm unterschied sich grundlegend von der Art von Beziehung, die ihre Geschwister zu ihm hatten. Sie war ihm fast ebenbürtig. Außerdem war sie über Jahre hinweg viel stärker und stabiler als ihre kranke Mutter. Melanies Wünsche, den Vater für sich allein zu haben, hatten sich also erfüllt – aber auf Kosten der Gesundheit und schließlich des Lebens ihrer Mutter.
Was geschieht, wenn der eigene frühkindliche Wunsch, den gleichgeschlechtlichen Elternteil loszuwerden und den gegengeschlechtlichen für sich zu gewinnen, in Erfüllung geht? Das hat drei gewichtige, charakterbestimmende und im Unbewussten wirkende Konsequenzen.
Die erste Konsequenz: Schuldgefühle.
Melanie fühlte sich schuldig, als sie an den Suizid ihrer Mutter zurückdachte: Sie hatte versagt, hatte
Weitere Kostenlose Bücher