Wenn Frauen zu sehr lieben
passten vollkommen zueinander. Die Tatsache, dass die – immer im rechten Moment eintreffenden – Geldgeschenke seiner Mutter ihn davon abhielten, endlich erwachsen und reif zu werden, stellte tatsächlich ein eheliches Problem dar, aber nicht, wie Melanie sich einredete,
das
Problem. In Wirklichkeit bestand das Problem darin, dass sich die ungesunden Lebensmuster und Lebenseinstellungen zweier Menschen so gut ergänzten, dass jeder es jeweils dem anderen ermöglichte, auf diese selbstschädigende Weise weiterzuleben.
Versuchen Sie einmal, sich diese beiden, Sean und Melanie, als Tänzer vorzustellen – als Tänzer in einer Welt, in der jeder ein Tänzer ist und schon in der Kindheit seine individuelle Schrittfolge eingeübt hat. Aufgrund bestimmter Ereignisse, aufgrund ihrer besonderen Persönlichkeiten, aber vor allem durch das Erlernen der Tänze, die schon während ihrer Kindheit einstudiert wurden, entwickelten sowohl Sean als auch Melanie ein besonderes Repertoire von psychologischen Schritten, Bewegungen und Gebärden.
Dann begegneten sie sich eines Tages und fanden heraus, dass sie ihre ungleichen Tänze zusammen aufführen konnten, dass auf magische Weise daraus ein vollkommen übereinstimmender Paartanz, ein perfekter
Pas de deux
von Aktion und Reaktion wurde. Jede Bewegung des einen wurde vom anderen erwidert. Daraus entstand ein Ballett, das sie ohne Unterbrechung tanzen konnten, immer im Kreis herum.
Wenn er eine Verantwortung loswerden wollte – sie übernahm sie sofort. Wenn sie sich mit der wohltuenden Last der Kinderaufzucht belud – er drehte eine elegante Pirouette, verschwand und gab ihr damit den Spielraum, den sie für ihre Fürsorglichkeit brauchte. Wenn er sich auf der Bühne nach anderer weiblicher Gesellschaft umsah, seufzte sie vor Erleichterung und tanzte schneller, um sich abzulenken. Während er davontanzte, dem Bühnenausgang entgegen, vollführte sie einen perfekten Wiegeschritt. Immer im Kreis herum.
Für Melanie war es manchmal ein aufregender Tanz, oft ein einsamer; gelegentlich war er auch peinlich oder erschöpfend. Aber was sie keinesfalls wollte: diesen Tanz, den sie so gut beherrschte, beenden. Die Schritte, die Bewegungen, all das fühlte sich so richtig an, dass der Name dieses Tanzes eigentlich nur Liebe sein konnte.
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Wollen wir tanzen?
«Wieso hast du ihn geheiratet?»
Wie sollst du das nun jemandem klarmachen? … Wie er, so als wollte er sich selber tadeln, den Kopf senkte und die Augen hob, um zu dir aufzusehen, scheu wie ein Kleinkind … Wie er sich in dein Herz geschlichen hat: lieb, schwärmerisch, verspielt … Er sagte: Du bist so stark, Schatz. Und ich glaubte es. Ich glaubte es!
Marilyn French,
‹Das blutende Herz›
W ie kommt es dazu, dass Frauen, die zu sehr lieben, tatsächlich die Männer
finden
, mit denen sie die krankmachenden Beziehungsmuster, die sie in der Kindheit entwickelt haben, fortführen können? Wie findet die Frau, deren Vater emotional nie für sie da war, einen Mann, um dessen Aufmerksamkeit sie sich immerfort bemühen muss, ohne diese jedoch zu gewinnen? Wie schafft es die Frau, in deren Familie es zu Gewalttätigkeiten kam, sich mit einem Mann zusammenzutun, der sie schlägt? Wie findet die Frau, die in einer Alkoholikerfamilie groß wurde, einen Mann, der schon alkoholkrank ist oder es zumindest bald werden wird? Wie findet die Frau, deren Mutter seelisch immer abhängig von ihr war, einen Ehemann, der sie braucht, um sich von ihr versorgen zu lassen?
Bei all den möglichen Partnern, denen sie begegnen – was führt diese Frauen genau zu den Männern, mit denen sie den altvertrauten Tanz ihrer Kindheit aufführen können? Und wie reagieren sie (oder reagieren eben nicht), wenn sie einem Mann begegnen, der gesündere, reifere Verhaltensweisen zeigt, der sie nicht so eigennützig missbraucht, wie sie es gewohnt sind, einem Mann also, dessen Tanzschritte nicht so harmonisch zu den ihren passen?
Im therapeutischen Bereich gibt es das alte Klischee, dass Menschen oft jemanden heiraten, der dem Elternteil ähnlich ist, mit dem sie die größten Auseinandersetzungen hatten, während sie aufwuchsen. Dieses Konzept stimmt nicht ganz. Der Punkt ist nicht, dass wir einen Partner wählen, der Ähnlichkeiten mit unserem Vater oder unserer Mutter hat, sondern dass wir in der Lage sind, bei diesem Partner dieselben Gefühle zu erleben, dieselben Herausforderungen zu erfahren, mit denen wir es
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