Wenn Frauen zu sehr lieben
ob ich überhaupt den Mut dazu aufgebracht hätte, denn ich schämte mich fürchterlich. Ich glaubte ganz fest, was sich zwischen uns abspielte, sei meine Schuld. In unserer Familie war Sexualität ein absolutes Tabu; irgendwie wurde mir die Einstellung vermittelt, dass es sich dabei um etwas Schmutziges handelte. Und schmutzig fühlte ich mich – deshalb durfte ja auch niemand etwas erfahren.
Als ich fünfzehn war, begann ich, die verschiedensten Jobs anzunehmen. Ich arbeitete abends, an den Wochenenden und in den Sommerferien. Ich hielt mich so oft und so lange wie möglich von zu Hause fern, und ich kaufte mir ein Schloss für meine Tür. Als ich meinen Vater zum ersten Mal aussperrte, blieb er vor der Tür stehen und hämmerte mit den Fäusten dagegen. Ich tat so, als bekäme ich nichts davon mit. Meine Mutter wachte auf und fragte ihn, was er da eigentlich machen würde. Darauf antwortete er doch tatsächlich: «Ruth hat ihre Tür abgeschlossen», und meine Mutter sagte «Ach ja? Sie wird schlafen wollen.» Und das war das Ende. Keine Fragen von meiner Mutter. Keine weiteren Besuche von meinem Vater. Ich hatte all meinen Mut zusammennehmen müssen, ein Schloss an meiner Tür anzubringen. Ich fürchtete, es würde nicht halten. Ich fürchtete, mein Vater würde hereinkommen und sich darüber aufregen, dass ich versucht hatte, ihn auszusperren. Aber etwas anderes war viel schlimmer: Fast hätte ich mich damit abgefunden, genauso weiterzumachen, statt das Risiko einzugehen, dass irgendjemand herausfand, was sich die ganze Zeit über abgespielt hatte.
Als ich siebzehn war, zog ich aus, um aufs College zu gehen. Dort lernte ich den Mann kennen, mit dem ich mich etwas später verlobte. Ich teilte mir mit zwei anderen Mädchen eine Wohnung, und eines Abends kamen ein paar Freunde von ihnen zu Besuch, die ich alle nicht kannte. Ich ging früh zu Bett, vor allem, weil ich mich nicht am Marihuanarauchen beteiligen wollte, das damals gerade in Mode kam. Obwohl sich praktisch kein Student an das strikte Alkohol- und Drogenverbot im College hielt, konnte ich mich nie daran gewöhnen, mitzumachen oder überhaupt nur dabei zu sein. Mein Schlafzimmer lag direkt neben dem Badezimmer am Ende eines langen Korridors. Einer der Besucher, der auf die Toilette hatte gehen wollen, geriet versehentlich in mein Zimmer. Natürlich bemerkte er seinen Irrtum sofort, verließ jedoch nicht den Raum, sondern fragte mich, ob er sich mit mir unterhalten dürfe. Ich konnte nicht nein sagen. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber ich konnte einfach nicht. Jedenfalls setzte er sich auf die Bettkante und fing ein Gespräch mit mir an. Dann sagte er, ich solle mich umdrehen. Er wolle meinen Rücken massieren. Irgendwann lag er dann in meinem Bett. Es kam zum Geschlechtsverkehr, und kurz darauf kam auch die Verlobung zustande. Ob er nun Marihuana rauchte oder nicht – ich glaube, er war fast so konservativ wie ich und hielt es daher für seine Pflicht, mit mir zusammenzubleiben, nachdem wir miteinander geschlafen hatten. Wir trafen uns etwa vier Monate lang, bis er dann einfach verschwand.
Sam lernte ich etwa ein Jahr später kennen. Wir redeten nie über Sex, und ich nahm an, wir vermieden dieses Thema wegen unserer religiösen Überzeugungen. Ich erkannte nicht, dass wir es umgingen, weil wir beide in sexueller Hinsicht erheblichen Schaden erlitten hatten. Es war ein gutes Gefühl, Sam zu helfen. Ich arbeitete daran, unser Problem zu überwinden, damit ich schwanger werden konnte. Es war ein gutes Gefühl, hilfsbereit, verständnisvoll, geduldig zu sein – und die Kontrolle zu behalten. Nur das Gefühl von restloser Kontrolle verhinderte, dass in mir die Erinnerungen an meinen Vater, seine Annäherungsversuche und Übergriffe wieder hochstiegen, die Erinnerungen an all die Nächte, all die Jahre.
Als ich diese Erinnerungen in der Therapie allmählich zulassen konnte, legte mir die Therapeutin nahe, mich Daughters United anzuschließen, einer Selbsthilfegruppe für Frauen, die von ihren Vätern sexuell missbraucht worden sind. Lange Zeit sperrte ich mich dagegen, aber schließlich wagte ich diesen Schritt doch. Ein Segen, dass ich es tat! Zu erfahren, dass es viele andere Frauen gab, denen Ähnliches und oft noch viel Schlimmeres widerfahren war, es tröstete mich und gab mir neues Selbstvertrauen. Einige Frauen in meiner Gruppe hatten wie ich Männer mit sexuellen Problemen geheiratet. Diese Männer gründeten auch eine
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