Wenn Gottes Kinder schweigen - Livermore, C: Wenn Gottes Kinder schweigen - Hope Endures
du mich verlassen?« (Matthäus 27,46)
Selbst Jesus hatte Zweifel an Gottes Liebe zum Ausdruck gebracht, als er am Kreuz starb. In unserer Welt starben Kinder vor Hunger, und ihr Verscheiden blieb unbemerkt. Mich irritierten die Gebete der Gläubigen in der Kirche, und ich fragte mich, welchem Zweck sie dienten. Gott musste sicherlich nicht darum gebeten werden, das Leben eines Kindes zu retten oder es regnen zu lassen. Selbst Mutter
Teresa wunderte sich über den Schmerz, den Menschen aushalten mussten. Während der Überschwemmungen in Andra Pradesh 1977, als Tausende zu Tode kamen und die Cholera ausbrach, sagte Mutter in etwa: »Gott versucht, uns etwas zu sagen, aber wir können nicht verstehen, was er sagt.«
Manchmal bekam ich kurze Nachrichten von Mutter, die mich nicht länger mit »mein Kind« ansprach, sondern mit »Tobit, Dr. Colette Livermore«.
Schwester Doreen, die 1976 mit Laras Gruppe ihre Profess abgelegt hatte, besuchte mich 1995 in Gosford, nachdem sie den Orden nach mehr als zwanzig Jahren verlassen hatte. Sie hatte sich zu einer sehr ängstlichen Person entwickelt, die kaum mehr etwas mit der jungen, begeisterungsfähigen Frau gemein hatte, an die ich mich erinnerte. Von der Gruppe der vier Australierinnen, die 1973 in den Orden eingetreten waren, war nur noch Anthea übrig.
Ich zahlte mein Haus in Gosford ab, hatte gute Freunde und war in der Nähe meiner Familie, aber irgendwie gehörte ich nicht hierhin. Ich war enttäuscht, niemanden gefunden zu haben, mit dem ich das Leben hätte teilen können. Weil ich mich nach meinen Erfahrungen in Bourke für die Gesundheit der Aborigines interessierte, las ich häufig Artikel, in denen es um die Probleme in den fernen Gemeinden ging; und weil ich wusste, dass es darauf keine raschen Antworten gab, beschloss ich, ins Northern Territory zu ziehen, wo ich eine Stelle im Katherine Hospital fand.
Ich fuhr die viertausend Kilometer von Gosford nach Katherine mit dem Auto. Die Sonnenblumenfelder der Darling Downs wichen dem trockenen Weideland um die
Minenstadt von Mount Isa. Es war Regenzeit, und ich hatte Glück, über die Brücke des Georgina River bei Camoweel zu kommen. Im Schritttempo fuhr ich die etwa zweihundert Meter des erst kürzlich eröffneten einspurigen Asphaltbands und dann über den Barkley Highway, der in den »Track« mündete, wie die Einheimischen den Stuart Highway nannten, der Adelaide und Darwin verbindet. Anschließend ging’s etwa sechshundert Kilometer Richtung Katherine. Bald würde mein Leben als Ärztin im Outback beginnen.
12
Fliegende Ärztin
»Die Vergangenheit ist in uns und nicht hinter uns. Nichts ist je vorbei.«
Tim Winton, The Turning
Das Territory ist ein weitläufiges, altes Gebiet ohne Besonderheiten, wo man für die Heucheleien und kosmetischen Verblendungen des Südens kaum Zeit hat. Das Leben hier verlief zum einen entspannter, war aber auch intensiver. Manchmal versammelte sich das Krankenhauspersonal auf einen abendlichen Drink auf dem Rasen unter dem aufmerksamen Blick der hier beheimateten Kragenechse und genoss die Kameradschaft der Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern und Staaten. In der Katherine Gorge, wo der alte Fluss den zwischen Rot und Ocker changierenden Sandstein ausgehöhlt hat, bis nur noch Klippen an beiden Ufern übrig blieben, trieben Livingstonpalmen aus dem unwirtlichen Fels, und die Jawoyn-Aborigines nutzten die felsigen Überhänge als Kunstgalerien.
Ich fing im Krankenhaus als Stationsärztin an, wurde aber nach wenigen Monaten zum Air Medical Service versetzt, der das große Gebiet bis hinunter nach Eliot im Süden, nördlich bis zum Pine Creek und bis zu den Grenzen
von Queensland und Western Australia versorgte. Unsere Arbeit war zweigeteilt: die Leitung der Kliniken für Allgemeinmedizin in fernen Gemeinden und einen telefonischen Notdienst mit Rettungsdienst für dieses Gebiet.
Wöchentlich oder vierzehntägig, je nachdem, wie gut wir besetzt waren, legte ich im Postfugzeug die fünfhundert Kilometer nach Kalkaringi-Daguragu zurück, um in der dortigen Aborigines-Siedlung drei Tage lang in einer Ambulanzklinik Dienst zu tun. Kezia, eine lebhafte Engländerin jamaikanischer Abstammung mit wilden Dreadlocks und einem breiten Lächeln, reiste mit mir, weil sie in Lajamanu arbeitete, etwa hundertfünfzig Kilometer weiter in südwestlicher Richtung.
In Kalkaringi hatte auch der Kampf der Aborigines für ihre Landrechte begonnen, als sie 1966 einfach von der
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