Wenn Gottes Kinder schweigen - Livermore, C: Wenn Gottes Kinder schweigen - Hope Endures
Sie wies uns Schwestern häufig vor der ganzen Gemeinschaft zurecht und ließ sich über die verschiedenen Fehler und Charakterschwächen aus, die ihr aufgefallen waren, unter vier Augen jedoch war sie noch schonungsloser. Mein Zorn wurde dadurch nur noch größer, auch wenn ich ihn zu unterdrücken versuchte. Ich schrieb in mein Notizbuch:
»Halte Frieden mit der Schwester; lass dich durch ihre Worte des Zorns nicht stören. Entschuldige dich nicht. Was sie sagt, zählt nicht, es sei denn, sie ist ein Instrument des göttlichen Willens. Nichts ist zufällig. Sie ist hier, um
deinen Glauben, deine Demut und deine Selbstkontrolle zu befördern. Die Wut und die Bitterkeit müssen einen Grund haben. Hilf mir, dass ich nicht daran zerbreche oder meine Liebe zu ihr.«
In Manila hatte Mutter mich gebeten, der Eintracht zu dienen, und ich hatte meine Worte kontrolliert und mich bemüht, meinen Ärger zu unterdrücken. Aber auch andere Mitglieder der Gemeinschaft hatten sie als schwierig empfunden und versucht, mit mir darüber zu reden. Eine Schwester wurde zornig, als ich eine Diskussion über Schwester Dolores’ Verhalten abbrach, weil ich mich an Mutters Ermahnung erinnerte. Die Reaktionen wurden durch sie selbst und ihr Tun hervorgerufen, nicht durch mich. Nichtsdestotrotz beschuldigte sie mich, in der Gemeinschaft schlecht über sie zu reden und die anderen gegen sie aufzubringen, was nicht stimmte.
Eine Vorgesetzte benötigte keine Gründe oder Beweise für Beschuldigungen, aber mir war es nicht erlaubt, mich verbal zu verteidigen. Wurden negative Berichte nach Kalkutta geschickt, hatte eine Schwester keine Möglichkeit sich zu rechtfertigen, oftmals erfuhr sie nicht einmal, wessen sie beschuldigt wurde. Mutter sagte immer wieder, wir sollten falsche Beschuldigungen hinnehmen und uns nicht verteidigen, wie auch Jesus das getan hatte.
In ihrem Allgemeinen Brief vom 28.4.1983 verkündete Mutter dem Rest der Gesellschaft die Eröffnung des Hauses in Hongkong und bat uns, ein Leben größerer Liebe zu leben, indem wir unsere Herzen von lieblosen Gedanken und unsere Zunge von verletzenden Worten der Kritik
und des Nörgelns befreiten. Sie verurteilte Wutanfälle und Temperamentsausbrüche.
Mutters Brief umfasste einen Zehn-Punkte-Plan, der zum Ziel hatte, die Liebe innerhalb der Gemeinschaft wachsen zu lassen. Zu diesem Plan gehörte auch, dass wir in unser Gebetbuch den Abschnitt abschrieben, wo der heilige Paulus an die Korinther schreibt: »Die Liebe ist langmütig und freundlich …« (1. Korinther 13,4-7), der auch in unserer Verfassung zitiert wird. Wir sollten täglich unser Gewissen erforschen, wie wir einander und die Armen lieben konnten, und unser diesbezügliches Versagen beichten. Nächstenliebe sollte das Thema unserer monatlichen Tage der Wiederbesinnung und unserer spirituellen Lektüre sein. Außer an Sonntagen sollten wir uns zusätzlich zehn Mal täglich züchtigen und eine besondere Wiedergutmachung leisten, wenn wir irgendein spezifisches Fehlverhalten entdeckten. Wir sollten unsere Zunge im Zaum halten; sollte jemand eine Sünde gegen die Nächstenliebe begehen, musste er die Gemeinschaft vor dem Abendgebet um Verzeihung bitten. Ein kleines Gebet mit der Bitte an Gott, unsere Liebe füreinander wachsen zu lassen, war dazu gedacht, es häufig während des Tages aufzusagen.
Mutter schlug einen Weg zur Verbesserung der Nächstenliebe vor, der uns noch weitere Unterwerfung, Prüfung und Selbstbestrafung abverlangte, als könnte körperlicher Schmerz uns von dem seelischen Schmerz ablenken, dem wir in vielen unserer Häuser ausgesetzt waren. Wenn ein Mensch glücklich ist, kann er sich auch den anderen mitfühlend nähern, aber das Gefühl niedrigen Selbstwerts, von Machtlosigkeit und Einsamkeit sorgt für schwärende
Feindseligkeit und Depression. Ich hatte gebetet, mich in Lektüre vertieft und den Ärger zu kontrollieren versucht sowie mich in Selbstverleugnung geübt, aber diese Praktiken machten mich nicht zum besseren Menschen. Die unaufhörlichen Bevormundungen und anti-intellektuellen Einstellungen verstärkten unsere Empfindsamkeit und leisteten emotionaler Unreife und Kleinlichkeit Vorschub.
Mutter Teresa arbeitete als Produkt ihrer eigenen Geschichte gemäß den Einsichten, die sie dank ihrer Kultur und ihrer Ausbildung bekommen hatte. Sie ließ nicht zu, dass die Zwischentöne des Lebens ihre Vision zerstörten oder ihre unbeugsame Entschlossenheit ablenkten. Wenn ein
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